P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Mutter eines kleinen Knaben, der überall herumtollte.
Irène führte uns in einen Ballsaal, der als Versammlungs- und Planungsraum diente. Klapptische, Klappstühle, dazwischen antike Stücke, standen ungeordnet herum. Die Wände waren mit Tabellen und farbigen Plänen bedeckt. Irène erklärte uns die Anbaupläne für Gemüse und andere Ackerfrüchte.
Roger erwähnte, dass Investitionen von mehreren Millionen Euro vorgesehen waren, darunter auch für eine Biogas-Anlage, für Sonnenkollektoren und elektrovoltaische Anlagen. »Wir müssen vorwärts machen, solange es noch Zuschüsse von der EU gibt«, meinte Cora augenzwinkernd.
»Eigentlich hätten wir vierzig Jahre lang Zeit gehabt, diese Umstellung vom fossil-nuklearen zum nachhaltigen Betriebssystem zu bewältigen«, sagte ich, an die Diskussion vom vorhergehenden Abend anknüpfend.
»Es fehlte die Kultur dafür«, erwiderte Gérard, ein bärtiger Mann in meinem Alter, der nach Kuhmist stank.
»An der Kultur fehlt’s immer«, seufzte Roger.
Gérard schlug die Hände zusammen.
»Wir selbst haben eine Kultur des Qualunquismus unterstützt, des Relativismus, der scheinbar toleranten Gleichgültigkeit. Wer auch immer eine Lebensweise konkret vorschlug, wurde niedergemacht, sei es nun als Fundamentalist, als Sektierer, als festgefahrener Idiot. Wir müssen uns nun endgültig festlegen, wir müssen endlich entscheiden, wie wir leben sollen und können.«
»Kultur tut weh«, sagte Roger.
»Das sagen nur Kinder«, gab Gérard zurück.
»Oder Freud«, ergänzte ich.
Irène mischte sich ein: »Wir können keine Anbaupläne machen,wenn es keine verbindliche gastronomische Kultur gibt, die garantiert, dass das produzierte Gemüse auch gegessen wird – und zwar gerne.«
»Gastronomie ist die Kunst, Produkte, die saisonal anfallen, so zuzubereiten, dass sie einem schmecken«, dozierte Roger. »Kultur heißt, dass man lernt, gewisse Dinge zu mögen und andere nicht«, bestätigte Gérard.
»Es geht nicht um die Selbstverwirklichung, sondern um den Willen, sich mit Freude einzufügen«, provozierte ich.
»Das, oder der Planet ist im Eimer«, sagte Cora.
»Und jetzt gehen wir zum Mittagessen«, verkündete Irène.
Das Mittagesssen wurde an einem langen Tisch unter einem Kastanienbaum direkt vor der Küche serviert. Es waren etwa zwanzig Menschen jeglichen Alters da, die meisten in schmutzigen, verschwitzten T-Shirts oder bloß mit einem Bikini-Oberteil und Shorts bekleidet. Praktisch alle waren barfuß. Ich passte mich an, so gut es ging.
Es gab große Platten von gegrilltem, frittiertem und überbackenem Gemüse. Alles war nun reif: Tomaten, Zucchini, Auberginen, Paprika, Mangold, Gurken, Bohnen, verschiedenste Salate. Dazu gab es kaltes Fleisch, frischen Ziegenkäse, gefüllte Tomaten, Reissalat, Brot aus dem eigenen Holzbackofen. Der Wein stammte aus dem angrenzenden Loire-Gebiet. So weit funktionierte dieser Aspekt der neuen Kultur hervorragend.
Ich wurde vorgestellt als Paul, der auf dem Weg nach Lissabon war. Ein junger Mann neben mir fragte mich, warum ich dorthin unterwegs sei. Eigentlich war mir das selbst nicht mehr ganz klar. Suchte ich wirklich noch nach den Verschwundenen? Oder suchte ich nur noch nach einem Vorwand, um selbst zu verschwinden?
»Ich bin auf einer Spur, vielleicht gibt es einen Anhaltspunkt in Lissabon«, antwortete ich.
»Einen Anhaltspunkt?«
»Ich suche eine alte Freundin, die verschwunden ist.«
Der junge Mann wusste nicht, was er antworten sollte.
»Lissabon ist ja so etwas wie eine Endstation«, meinte er schließlich.
»Oder eben ein Ausgangspunkt – wenn man gerade Amerika entdecken will.«
»Amerika ist aber schon entdeckt. Leider gibt es kein zweites mehr. Wir sind schon mehrmals herum und haben alles kaputt gemacht.«
Ich spürte seinen Zorn. Aber nach einem Schluck Wein schien er schon wieder verflogen zu sein.
»Wir haben einige Kontakte zu ähnlichen Projekten in den USA«, berichtete Roger, der links von mir saß.
»Es gibt also Hoffnung«, sagte ich.
»Auf jeden Fall. Dieses Mal wird es gelingen.«
Was war »es«? Die Zivilisation?
Unter den Tafelgenossinnen entdeckte ich einige nordafrikanische und schwarzafrikanische Gesichter. Offenbar hatten sich da nicht nur Sprösslinge des französischen Adels versammelt. Offenbar war »es« schon etwas größer.
»Wir haben hier 300 Hektar«, sagte Roger, »brauchen aber kaum 100. Also werden wir die andern 200 einer
association
aus den
banlieues
zur
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