P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
territoire
. Ich nahm das Buch mit. Ich war zu müde, um mir das übrige Angebot der Bibliothek anzuschauen.
Ich machte noch einen kleinen Spaziergang um das Schloss herum, klopfte Gaston, dem Esel, auf die Schulter, holte mireine Karaffe Wasser und ein Glas und verzog mich in mein Zimmer.
Ich legte mich nur mit meinen frischen Unterhosen bekleidet auf das Feldbett und hörte den Geräuschen des Hauses zu. Draußen wurden immer noch Gespräche geführt, jemand spielte Gitarre, jemand telefonierte mit dem Mobilfon, Insekten summten, Geschirr klapperte in der Küche, Kühe muhten aus der Ferne. Ich hatte keine Lust irgendetwas zu lesen. Schon gar nicht Manetti. Oder Houellebecq.
Meine Mission war mir abhanden gekommen. Ich konnte nichts mehr tun für Christian. Ich wollte es auch nicht mehr. Verschwunden zu sein, war nichts Schlimmes. Ich fühlte mich wohl im
Land der Ferne
, oder wo auch immer ich genau war. Es spielte keine Rolle.
24.
Die Tage vergingen abwechslungsreich, aber in einem gemächlich modulierten Rhythmus. Ich half Gérard im Stall und auf der Weide. Dann wieder sprang ich ein bei der Tomatenernte. Diese Früchte explodierten jetzt geradezu. Eine besonders große Tomate wog fast zwei Kilo. Ich hatte Küchendienst, putzte WCs und Badezimmer, reparierte Zäune oder ging mit zu einem landwirtschaftlichen Einkaufszentrum, wo wir Gummistiefel, Spaten und Abdeckfolien kauften, dazu noch Zigaretten und Schnäpse. Mein Aussehen wurde immer rustikaler, weil ich darauf verzichtete, mich zu rasieren. Das Verhältnis zu den Mitgliedern der
association
war herzlich, aber nicht allzu persönlich. Ich war ein Gast, mehr nicht. Gérard war meine wichtigste Bezugsperson, wahrscheinlich, weil wir beide die ältesten waren und eine ähnliche Ausbildung genossen hatten. Wir waren Philologen. Mit ihm konnte ich während des Ausmistens im Stall ganz ungezwungen über Montaigne, Rabelais, Verlaine oder Camus plaudern. Ich erzählte ihm von Manetti.
»Eine Epoche fassen zu wollen, ist eine große Versuchung«,sagte er, als wir beim Misthaufen eine Rauchpause machten, »man sollte ihr widerstehen. Andererseits haben wir nur unsere Vergangenheit. Wir werden immer wieder in sie zurückfallen.«
»Vielleicht ist die Sucht nach Vergangenheit das eigentlich Böse«, improvisierte ich.
»Du meinst: Temporal-Sadismus?«
»Eine Form von Folter.«
Er nickte. »Lassen wir es bleiben. Kümmern wir uns um die Kühe. Wir sollten noch das Heu hereinholen. Ich glaube, heute gibt es ein Gewitter.«
Das Gewitter war dann tatsächlich heftiger als vermutet und artete in ein eigentliches Pandämonium aus. Die ganze Nacht irrten wir herum, gruben Entwässerungsgräben, versuchten ein Leck im Dach des Schlosses mit Plastikplanen abzudichten, fingen Hühner ein, deckten Kulturen zu, pumpten den Weinkeller aus, ließen Dieselgeneratoren laufen, weil die Stromversorgung ausgefallen war, suchten im Licht von Taschenlampen Dieselkanister in einem Schuppen, räumten Äste von der Straße. Dazwischen schlugen Blitze bedrohlich nahe ein. Gaston schrie, die Katzen miauten, die Hunde bellten, die Kühe muhten. Niemand verlor die Nerven.
Am nächsten Morgen besichtigten wir gemeinsam die Spuren der Zerstörung. Es war ein bisschen wie auf der
Farm der Tiere
nach dem Angriff der vereinigten Gutsherren. Herumfliegende Äste hatten Treibhäuser beschädigt, Dachziegel und ein Strohhut waren bis zum Ententeich getragen worden, überall hatten sich große braune Pfützen gebildet, frisch gepflanzte Kulturen waren weggeschwemmt worden. Strom gab es immer noch nicht.
Ziemlich erschöpft saßen wir bei einem improvisierten Frühstück. Wir tranken viel schwarzen Kaffee. Aber die Kühe konnten nicht warten. Ich begleitete Gérard zum Melken.
»Die Sanierung des Daches können wir nun vorziehen«, meinte er auf dem Weg. »Es wäre schade um die schönen Stuckdecken.«
Ein Reiher flog über uns hinweg.
Ein Wassereinbruch auf der Rückseite des Stalls hatte einen Teil des Kuhdungs auf die Wiese gespült.
»Was früher einmal als Heldentat galt, ist heute nur noch Gewässerverschmutzung«, meinte Gérard, als wir versuchten, die braune Brühe mit einem Notgraben zum Gülleloch hinzuleiten. Die Kühe hatten sich längst beruhigt und verschlangen mit Genuss das nasse Gras auf der Weide.
Es folgte ein ruhiges Wochenende, an dem ich endlich wieder Manetti aufschlug, und zwar Band 3. Er machte dort einen Kommentar zur Debatte zwischen Fundis und Realos bei den
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