P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Grünen, über das Rechthabenwollen im Allgemeinen und seine Folgen. Es hatte damals die Kompostierung vieler linker Ideologien begonnen; das Faulgas, das herausströmte, nannte sich in den USA
political correctness
. Was man in der Wirklichkeit nicht mehr verändern konnte, wollte man wenigstens durch Sprachkosmetik noch retten. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, soll man das wenigstens mit den korrekten Worten tun (Schweigen wäre besser).
Diese Selbstverspottung der gelähmten Linken war natürlich ein gefundenes Fressen für die neokonservative Rechte gewesen. Manetti erwähnte das Theaterstück
Oleanna
von Mamet, in dem ein gutmeinender Pädagogikprofessor von einer hinterhältigen Studentin demontiert wird, durchaus zum Vergnügen des Publikums. (Mamet hatte sich inzwischen als neokonservativ geoutet.) Autoritäten zu demontieren, war schon immer ein Hobby der Linken gewesen, nun schlug das Imperium zurück. Dabei ist
auctoritas
in seiner lateinischen Bedeutung gar kein böses Wort, denn es heißt in erster Linie Erfindungskraft. Wenn Autoritäten unkreativ werden, werden sie zu Recht Opfer der Demontage. Und die Erfindungskraft der Linken war in den achtziger Jahren wirklich auf null geschrumpft. Das sozialistische Vokabular selbst war erschöpft in sich zusammengesunken. Manetti sah Ermüdungserscheinungen, wohin er auch blickte. Dass diese sich noch Bewegung oder wie in Zürich d’Bewegig nannten, war unnötige Ironie. (Warum hatten sich faschistische Bewegungen immer schlicht »die Bewegung«genannt? Damit sie nicht sagen mussten,
wohin
!) Bewegung war natürlich gesund. Und darum begann ja auch die Bewegung des allgemeinen Joggens Ende der siebziger Jahre. Genauso wie die Sprache musste auch der Körper korrekt instand gehalten werden. Und dann hörte man noch auf zu rauchen. Und aß makrobiotisch. Wieso wollte man so lange leben, wo es doch offensichtlich schon keinen Spaß mehr machte? Vielleicht um den Versprechungen etwas mehr Zukunft zur Verwirklichung zu geben?
Manetti beschrieb eine Reise mit dem Nachtzug nach Wien. Falsche Richtung!, dachte ich. Er besuchte den Karl-Marx-Hof, diese seltsam anachronistische, leicht dadaistisch gestylte Burg des Austromarxismus. (Keine Dichte trotz der Größe.) Selbstkastellisation des Proletariats als Utopie? Eher ein Wohnsanatorium für historisch Gestrandete. Auch dort gab es nichts mehr zu holen. Immer noch gab es hingegen Landkommunen, sozusagen als Gegenentwurf. Sie orientierten sich an der Lebensreformbewegung des Monte Verità bei Ascona. Doch auch diese grüne Utopie lief sich nun tot. Auf dem Land hätte man sich ernsthaft mit Landwirtschaft befassen müssen, aber dazu hatten die meisten Landkommunarden weder Lust noch die Fähigkeiten. Am ehesten noch machten sie gute Arbeit auf den Alpen, in einer urban/ruralen Transhumanz, wie sie die
association
auf dem Château d’Ormont betrieb. Das war wohl die Zukunft.
Gegen Ende der achtziger Jahre verlor Manetti spürbar das Interesse am offiziellen Diskurs. Er wirkte abwesend, distanziert, und war es wahrscheinlich auch. Was soll man zu Kohl, Thatcher und Reagan noch sagen?
Für andere waren die achtziger Jahre eine herrliche Zeit des Aufbruchs gewesen. Kaum zu glauben. Die neue deutsche Welle; Falco – nix is fix – eine geballte Ladung Ironie. Wer den Schaden hat …
Ich stellte fest, dass das Château doch nicht der richtige Ort für eine profunde Manetti-Lektüre war. Ich war zu beschäftigt, das gesellschaftliche Leben war zu stimulierend, das Bedürfnis nach Erinnerungen minimal. Es gab zu viel Zukunft, um sich mit der Vergangenheit zu befassen. Sogar das Essenwar zu gut. Ich sprach oft mit Gaston, dem Esel, der aus einer früheren Nutzungsepoche übrig geblieben war – Roger verknüpfte mit ihm Kindheitserinnerungen – und jetzt verloren herumstand. Mit Gaston zu reden, war definitiv spannender als Manetti zu lesen. Gaston hatte eine stille, beruhigende Ausstrahlung, jene
force tranquille
, wie sie Mitterrand zu haben vorgegeben hatte.
Nach zwei Wochen Aufenthalt spürte ich, dass meine Gefährten allmählich eine Entscheidung von mir erwarteten: dass ich mitarbeitete, war ja gut und schön, doch im Grunde geht es in der Landwirtschaft nicht um Arbeit, sondern um Verbindlichkeit. Landwirtschaft ist wesentlich Planung, der Fluch der neolithischen Revolution lastet auf ihr. Die Kühe wollen nicht nur gemolken werden, sie wollen den Melkenden kennen. Mit Nomaden wie mir konnte man, selbst wenn
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