P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
sie ihren Teil an Arbeitsleistung beitrugen, keine nachhaltige Landwirtschaft betreiben. Ich war zwar kein Problem, aber auch keine Lösung des Problems.
Eine Gräfin fortgeschrittenen Alters, die sich später als Ariane de Quincy vorstellte und französische Botschafterin in Argentinien und Kolumbien gewesen war, brauchte eine Pause auf dem Acker, wo wir weiße, rote und gelbe Krautstiele ernteten. Um sich ihre feinen Hände nicht kaputt zu machen, trug sie orange-rote Gummihandschuhe.
»Das ist das Paradies«, stöhnte sie, als sie sich aufrichtete, »wenn nur diese Rückenschmerzen nicht wären.« Sie zog ihre Handschuhe aus.
Wir setzten uns auf zwei leere grüne Kunststoffgemüsekisten und blickten um uns. Es war tatsächlich ein schöner Ort: Gemüseäcker rundherum, etwas entfernt blinkten einige Gewächshäuser in der Sonne, man sah das Schloss hinter den großen Bäumen, eine dichte Hecke, weiter östlich die rotbraunen Kühe auf der Weide. Das Wetter war wechselhaft, angenehm kühl, die Sonne brannte nicht mehr wie im Hochsommer.
»Nehmen wir an«, hob ich an, »dass Ihre
association
floriert, dass sich Ihr System in ganz Paris, sogar bis in die
banlieues
ausbreitet, dass ganz Frankreich sich relokalisiert undsich einem Lebensstil auf der Basis von 1000 Watt annähert. Keine Autos mehr, Atomkraftwerke stillgelegt – abschalten kann man sie ja nicht wirklich –, etwas kräftigende Landarbeit auf dem Land statt Sport, inspirierende
soirées
in den Nachbarschaften, ökologisches und soziales Gleichgewicht auf dem ganzen Planeten, eine monetäre Restökonomie, die etwa dem heutigen Bruttosozialprodukt von Chile oder Slowenien entspricht, langsame, genussvolle Reisen mit Bahn, Schiff und Kamel. Keine größeren Kriege mehr, keine großen Nationen, nur noch ein Flickenteppich von harmlosen, weitgehend selbstgenügsamen Regionen. Das Klima bessert sich, der Boden ist gerettet, Erdöl wird nur noch für spezielle Anwendungen in der Pharmazeutik oder für Kunststoffe und Schmiermittel verwendet. Die Fischbestände in den Ozeanen haben sich erholt. Natürlich gibt es immer noch Ressourcen für Spitzenforschung wie die am Cern, vielleicht sogar ein Marsprogramm. Die Menschen sind über das Internet verbunden und teilen sich Kultur und Wissen aller Zivilisationen. Sie respektieren abweichende Meinungen und Überzeugungen – es herrschen Vielfalt, Toleranz, Austausch, also viel mehr Freiheit als heute. Wir können kollektiv aufatmen. Werden wir dann glücklich sein?«
Die Gräfin musterte mich misstrauisch. »Klar. Alle Glücksindikatoren werden auf dem Maximum sein: Einkommen, Freundschaft, Demokratie, Gesundheit. Sicher haben Sie von der Glücksforschung gehört.«
»Ja, aber die Glücksforschung misst nur das aktuelle Glück, nicht das zukünftige. Es könnte ja ein Glück nach dem Glück geben, eine Art Post-Glück. Super-Glück.«
»Sind alle Schweizer so wie Sie?«
»Nein, nur die Thurgauer.«
Sie seufzte, schüttelte ihren kleinen, zerknitterten Kopf. »Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie vermissen Transzendenz, einen tieferen Sinn des Ganzen, einen Zweck, ein Ziel. Diese ideologische Operation ist aber schon seit langem durchschaut und disqualifiziert. Der Trick ist alt: Man postuliere ein nicht erfüllbares Mehr, mache die Leute damit unglücklich in ihrem Glück und serviere ihnen dann einesder abhängig machenden, gängigen Surrogate: Religion, höhere Wesen, höheres Bewusstsein, all den Quatsch. Sodann muss man zur Erreichung dieses angeblichen höheren Niveaus einer hierarchisch aufgebauten Organisation beitreten, idiotische, hirnrissige oder sogar entwürdigende Rituale absolvieren und dem Chef sein Geld abliefern. Der investiert es dann irgendwo in schädliche oder egoistische Projekte.«
»Sie haben schon recht«, gab ich zu, »die Transzendenz als Projekt ist ein Bumerang.«
Sie wusste nicht, worauf ich hinauswollte, konnte es nicht wissen. Sie hatte nur auf den gängigen Stimulus mit einer gängigen Antwort reagiert – wie ein Versuchstier.
»Der Kapitalismus war die Essenz der Transzendenz«, fügte sie noch hinzu, »das Credo aller Credos. Er steckt uns noch in den Knochen.«
Sie machte Lockerungsübungen, um ihren Rücken zu entspannen.
»Ich meine ja gar nicht die Transzendenz. Ich meine höchstens eine bessere Immanenz.«
»Ah, so.«
An diesem Punkt beschloss ich, nicht weiterzureden. Es hatte keinen Sinn, einer existenzialistischen Gräfin erklären zu wollen, worum es
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