P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
mehr rentieren. Die Boshaftigkeit der Herrschenden ist nicht nachhaltig.«
»Und das wissen die natürlich.«
DSK lächelte nachsichtig. »Nicht alle. Reiche sind nicht gescheiter als Arme. Inzwischen moderieren wir den Kollaps. Und entwickeln Lebensweisen für danach, so wie hier. Hier lösen wir die Probleme der
banlieues
, der jungen Leute in Kairo, Madrid, Detroit. Die Ära der Jobs und der Profite ist vorbei.«
»Also bist du kein Sozialist?«
Er lachte hinterlistig. »Höchstens ein Post-Sozialist. Ein Post-Everything.«
»Wann etwa kommt denn der große Kollaps?«
»Wenn China implodiert. Etwa im Jahr 2013.«
»Dann haben wir ja noch zwei Jahre.«
»Wir sollten sie nutzen. All das da …« – er machte eine ausholende Handbewegung über Gärten, Felder und Treibhäuser – »ist ein guter Anfang, aber ich befürchte, es wird nicht schnell genug gehen. Dann drohen uns autoritäre Regimes, Mafia, Faustrecht.«
»Das heißt, uns droht ein historischer Absturz.«
»Ja, man darf nicht naiv sein. Leute wie Serge Latouche und andere Wachstumskritiker meinen, man könne unsere Wirtschaft allmählich vom Wachstumskurs auf eine langsame Schrumpfung umstellen. Statt jedes Jahr um zwei Prozent zu wachsen, schrumpfen wir einfach jedes Jahr um zwei Prozent. Doch so geht das nicht, denn Wachstum ist nicht einfach eine zufällige Eigenschaft des Kapitalismus – es ist sein Herz. Ein Kapitalismus, der schrumpft, wird nicht einfachkleiner, er kollabiert. Plötzlich sind alle Rechnungen offen, und zugleich gibt es kein Versprechen mehr, sie je zu bezahlen. Das Kartenhaus stürzt in sich zusammen. Darum gibt es nicht einmal Forschungen zur Postwachstumsgesellschaft. Nur schon der Gedanke an Wachstumszurücknahme zerstört Wachstum. Was wir hier tun, muss im Stillen geschehen. Es darf die offizielle Politik nie erreichen. Sogar die Grünen reden immer noch von Wachstum, von grüner Wirtschaft oder qualitativem, grünem Wachstum. Das ist natürlich Quatsch. Aber das ist gut so. Man soll immer von Wachstum reden.«
»Wachstumskritiker sind also gefährliche Brandstifter.«
»Genau, wir sind alle Spinner, völlig harmlos.«
BHL gesellte sich uns und berichtete aus Burma.
Am nächsten Tag nahm ich mir die Bibliothek vor. Ich fand Erstausgaben der Werke von Fourier, Comte, Owen, aber auch von Morris, Bellamy und H. G. Wells. Ich schmökerte ein bisschen darin. Die
association
lag irgendwo zwischen Owen und Morris, mit Marx als Lösungsmittel. Es fiel mir das Büchlein von La Bruyère,
Les Caractères
, in die Hände. Ich konnte nicht aufhören, darin zu lesen. Später fand ich auf einem Tisch, auf dem sich neuere Publikationen stapelten, eine dünne Broschüre, auf deren Umschlag dick die Worte INDIGNEZ-VOUS! prangten. Der Verfasser, Stéphane Hessel, stellte sich als 93-jähriger Veteran der Résistance heraus. »93 Jahre. Das ist wohl die letzte Etappe.« Er berichtet, wie 1944 der Conseil de la Résistance ein Programm verabschiedete, das eine umfassende Sécurité sociale, die Verstaatlichung der Energieversorgung und der Banken vorsah. Die Résistance schlug »eine rationale Organisation der Wirtschaft« vor, »eine wahrhafte wirtschaftliche und soziale Demokratie«. Er beklagt sich darüber, dass all diese Ziele in der Folge und vor allem unter den rechten Regierungen verraten wurden. Er deklariert sich als Hegelianer, ruft zur Empörung auf, zu einem gewaltlosen Aufstand, (»insurrection pacifique«) und schließt mit den Worten:
»Erschaffen, das heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten, das heißt erschaffen.«
Alles in allem zehn Seiten.
Wieder erscheint die Geschichte der letzten sechzig Jahre als Rückschritt, als Irrweg. Ein 93-Jähriger, der die Jugend zur Empörung aufrufen muss! Es dreht sich alles im Kreis.
Meine Gefährten versicherten mir, dass Stéphane Hessels Pamphlet in Frankreich ein großer Erfolg war. (Wie damals das Buch von Forrester, dachte ich mir.)
Ich war ratlos: Es steht ja gar nichts drin.
Ich kehrte wieder zur Lektüre der
Caractères
zurück. 1688.
Eines Abends sagte ich zu meinen Tischgenossen: »Morgen fahre ich nach Lissabon.«
Ich wusste gar nicht, was über mich gekommen war. Der Satz entschlüpfte mir einfach zwischen zwei Bissen Poulet à la crème.
Der höfliche Protest war ein bisschen zu lahm, um ernst gemeint zu sein. Ich glaube, Gérard bedauerte meinen Weggang ehrlich. Aber auch er wusste, dass man sich auf Menschen wie mich nicht verlassen konnte. Es gab
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