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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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nichts zu bedauern.
    Ich versprach nicht, eines Tages wieder vorbeizukommen, wenigstens nicht ins Orléanais.
    Sie brachten mich zum TGV-Bahnhof von Orléans. Sie verabschiedeten mich mit kühlen Umarmungen und gaben mir einen Korb voll Proviant mit. Ich kam mir vor wie ein sizilianischer Bauer auf Reisen. (Ich hatte auch noch meinen Bart und trug die auberginenfarbenen französischen Landarbeiterhosen mit den vielen praktischen Taschen.) Immerhin hatten sie mir keinen gegrillten Schafskopf mitgegeben. Eine schöne Flasche Bordeaux war dabei.
    In der
Libération
, die ich am Bahnhof gekauft hatte, las ich einen langen Artikel über die Tea-Party-Bewegung in den USA. Die Autorin stellte Bezüge zum Individualismus der 68er Bewegung und zum neoliberalen Egoismus der achtziger Jahre her. Ebenfalls erwähnt wurde Ayn Rand, offensichtlich die Ideologin dieser libertär und neoliberal schillerndenBewegung. Ich hatte von dieser Ayn Rand schon in den siebziger Jahren gehört. Am ehesten konnte man sie als das typisch amerikanische Pendant zu Friedrich Hayek betrachten. Die Botschaft war klar: Freiheit und Reichtum für die Mächtigen. Der Rest soll schauen, wie er zurechtkommt. Liberale entdeckten – wie die Anarchisten – ihren Feind: den Staat. Aber nur als Pose. Wenn es darum ging, ihre Banken zu retten, war er herzlich willkommen. Auch Libertäre brauchen einmal ein Spital.
    Mir fielen meine Freundinnen von der
association
wieder ein: Was, wenn sie einfach zu klug waren? Die große Masse liebt kluge Menschen, die vernünftige Vorschläge machen, nicht. Sie lösen höchstens Ressentiments aus. Nur mit Quatsch lassen sich Mehrheiten finden. Vielleicht sollten meine Freunde gezielt mehr Unsinn erzählen, etwa dass man sich mit Urban Gardening ernähren kann, dass man die Städte verlassen und aufs Land ziehen soll, dass jedes Haus mit mehr als vier Stockwerken menschenunwürdig ist (die Place des Vosges würde diese Bedingung gerade noch erfüllen, aber die HLMs in den
banlieues
müsste man kappen oder schleifen). Natürlich kann es anstrengend sein, wenn man dumm erscheinen will. Aber nur leicht Bekloppte mobilisieren den nötigen Hilfsinstinkt. Wer selbst gescheit ist, bekommt weder Hilfe noch Ratschläge. Ich verwarf diesen Gedankengang als zu schlau und schlief dann ein.

25.
    Von Spanien sah ich nicht viel. Gegen Morgen fuhr der Zug in Lissabon ein. Ich war mitten in der Stadt. Man sprach hier dieses nuschelnde Portugiesisch: Italienisch durch den Fleischwolf gedreht. Es war ganz sympathisch, machte die Menschen unbeholfen.
    Mit meiner Reisetasche und dem fast leeren Proviantkorb quartierte ich mich zuerst in einem der Hotels hinter der Avenida de Libertade ein. Ich duschte und legte mich hin. Die Stadt summte und brummte.
    Als ich später durch Lissabon schlenderte, stellte ich fest, dass das Land pleite war und von einem Socratés regiert wurde. Auf den Mauern erklärten Graffiti, dass die Schuld nicht beim Volk, sondern beim Internationalen Finanzkapital (IFC) lag. Das stimmte wohl, half einem aber nicht, die nächste Miete zu bezahlen. Wissen ist nicht Ohnmacht, aber meist auch nicht Macht, sondern einfach nur
nice to have
.
    Am Rossio-Platz setzte ich mich in ein Terrassencafé. Plötzlich überkam mich eine seltsam aggressive, widerborstige Stimmung. Ich mochte die Bettler nicht, die periodisch vorbeikamen. Ich mochte die Alten nicht, denen man gerade die Renten gekürzt hatte. Ich mochte die afrikanischen Migranten nicht, die aus dem großen in ein kleines Elend geflüchtet waren. Ich mochte die netten jungen Leute nicht, die keine Zukunft hatten. Wir hatten keine Vergangenheit – sie keine Zukunft. Was soll’s. Niemand hat unter dem Kapitalismus eine gute Zeit. Seit zweihundert Jahren sind wir am Verlieren. Wir sind schuld, dass wir das Monster nicht aufgehalten und unschädlich gemacht haben. Kapitalisten, Banker, CEOs, Politiker sind nie schuldig, sie nehmen nur ihre Interessen wahr. Wir waren zu schwach, nicht gut genug organisiert, zu wenig konsequent – sie gewannen immer wieder und würden auch jetzt gewinnen. Was jetzt geschah, war normal. Die Kolonialkriege, der Erste Weltkrieg, Stalins Modernisierungstote, der Spanische Bürgerkrieg, der Holocaust, der Zweite Weltkrieg, Vietnam, Biafra, Ruanda … jedes Jahr 30 Millionen tote Kinder: alles unsere Schuld. Niemand hat mehr ein Recht, sich zu beklagen. Bei wem schon? Im Gegenteil: Die Opfer hatten die Strafe verdient. Sie – wir – hatten immer die

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