P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Familien sich dafür interessieren sollten, war mir schleierhaft. Vielleicht müssen erfolgreiche Romane so sein: Man interessiert sich für das Leben anderer. Ich interessierte mich nur für meines. Manchmal wurde es halt von dem anderer tangiert. Aber ein Roman ließ sich darüber nicht schreiben.
Elsa ließ mir ausreichend Zeit, in den ausgelegten Kunstzeitschriften zu blättern. Auf einem Bild lächelte mir eine alte Bekannte entgegen: Alma Sandström in einem Kunstmuseum in Stockholm.
Als ich mich ausreichend umgesehen hatte, brachte Elsa zwei große Gläser geeisten Tee und setzte sich mir gegenüber auf einen dicken braunen Ledersessel.
»Und was machen wir nun?«, fragte sie sichtlich gut aufgelegt.
»Ich soll Rita Vischer finden – und noch ein paar andere.«
»Ihnen geht es sehr gut. Ich bezweifle allerdings, dass sie gefunden werden wollen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Zudem sind sie ja auch nicht verloren.«
»Das beruhigt mich.«
»Grüße auch von Nora Nauer.« Sie lächelte mich lauernd an.
»Ich gehe davon aus, dass das Verschwinden nun aufgehört hat«, sagte ich.
Sie nickte. »Nora war die letzte, dann mussten wir die Operation schließen. Eigentlich warst du der Auslöser, denn deine Herumfragerei in Zürich hat die Polizei auf Nora Nauer gelenkt und damit auf Suvereto. Den Restkennst du ja. Grondin merkte natürlich, dass ihr einer Sache auf der Spur wart. Er ist übrigens privat unterwegs, zusammen mit seinem Kollegen aus Florenz und Max Rühe aus Berlin. Ein gewisser Mario da Costa aus Lissabon ist jetzt noch dazugestoßen. Sie hatten herausgefunden, wohin Rita, Nora und Jeannine zuerst gegangen waren: mein altes Gutshaus in Mecklenburg. Da waren sie, kurz nachdem du gegangen bist. Nora ist schon lange weg. Bald werden sie herausfinden, dass ich in New York bin. Darum bin ich auch nicht in meiner New Yorker Wohnung. Nur dank Gerdas Tipp bist du überhaupt hier. Wir wollten nicht unhöflich sein.«
»Damit weiß ich immer noch nicht, wo Rita und all die andern sind.«
»Nein, und ich kann es dir auch nicht sagen.«
»Weil ich Roberto Manetti nicht gelesen habe.«
Sie lachte wieder und sagte: »Nun – warum liest man überhaupt? Ist es pure Neugier? Langeweile? Der Wunsch, die Welt zu verstehen? Geht es einfach nur um den verborgenen Zauber von Geschichten?«
»Man liest, um im Bild zu sein.«
»Dazu liest man Zeitungen. Bücher liest man wohl eher, um aus dem Bild zu fallen, um eine Pause von der Zeit zu erhalten. Bücher sind Reservate, Schongebiete, ein Luxus, den sich nur Menschen leisten können, die einen gewissen Lebensstandard erreicht haben. Man braucht freie Zeit, wenn man lesen will. Man muss sich Ferien leisten können. Das geht für die meisten nur mit harter Arbeit davor. Die authentischen Momente können wir uns nur durch das Ertragen einer großen Zahl von völlig unechten Momenten leisten. Spontanes Erleben erfordert die Planung von Raum und Zeit, wo Spontaneität überhaupt möglich wird. Die Konditionen müssen durch Arbeit geschaffen werden. Die Alternative wäre ein Leben im Hier und Jetzt, ein verstörendes Rauschen, Benommenheit, Ablenkung. Wer nur lebt, der erlebt nichts wirklich.«
»Das könnte von Manetti sein.«
»Ja, mein Bruder hatte eine philosophische Ader. Aber wirbleiben so nur an der Oberfläche. Durch Denken findet man nichts Wichtiges heraus.«
Sie lächelte mitleidig. Warum soll man mit jemandem reden, der nichts weiß und nichts ist? Und keine Ahnung hat?
»Und wie finde ich jetzt Rita Vischer?«
»Liegt dir wirklich etwas daran?«
Ich überlegte. »Nicht sehr viel. Aber es wäre gut, wenn ich Christian helfen könnte.«
»Ohne Risiko.«
»Ich habe schon ziemlich viel Geld investiert. Und Zeit.«
»Gut. Zugegeben. Aber du weißt nicht, auf was du dich eingelassen hast.«
»Nein. Das ist ja der Punkt.«
Sie lehnte sich zurück und nippte an ihrem geeisten Tee. War das nun das Ende der Unterhaltung? War ich nach New York gekommen, um mir das sagen zu lassen?
Ich hielt es durchaus für möglich, dass die ganze Sache ein Rätsel blieb. Ich konnte zu meinem Alltag zurückkehren, ganz ohne Schaden. Ich konnte den nächsten Flug nach Zürich nehmen. Elsa schien zu überlegen, was sie mit mir anfangen sollte.
Ich studierte ihr Gesicht, konnte eine Familienähnlichkeit mit dem Schnappschuss auf dem Kaminsims in Lissabon durchaus erkennen und schloss daraus, dass Roberto wirklich gelebt hatte und dass er Notizbücher verfasst haben
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