P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
konnte.
»Warum hast du denn Robertos Notizbücher überhaupt herausgegeben?«, fragte ich, um irgendetwas zu sagen.
Sie erhob sich, ging zu einem Bücherregal und stellte den wohlbekannten schwarzen Schuber auf das Mahagonitischchen.
»Das da habe ich herausgegeben, weil ich es Roberto versprochen hatte, als er schon todkrank war. Er wollte, dass seine Überlegungen und Gedanken erst zehn Jahre nach seinem Tod erschienen. Er wollte verhindern, dass das persönliche Element eine zu große Rolle spielte. Distanz war ihm wichtig, Distanz zu der Zeit und zu seiner Person. DennErkenntnis braucht Distanz. Sie ist erst wertvoll, wenn sie zu spät kommt.«
»Roberto wollte keine Wirkung auf die laufenden Ereignisse.«
»Das hat er nie gewollt. Es sind ja die Ereignisse, die sich die passenden Gedanken und Ideen aussuchen, nicht Gedanken und Ideen, die Ereignisse auslösen. Die Welt ist eines, was wir uns ausdenken, das andere.«
»Eine sehr materialistische Denkweise«, bemerkte ich.
»Ja, im Grund seines Herzens war Roberto eine Art Marxist. Er glaubte nicht an die Kraft der Ideen. Ideen folgen den Taten, nicht umgekehrt. Einsichten sind natürlich möglich, aber eigentlich ein Luxus.«
Ich blickte mich in der Wohnung um. Ein perfekter Ort, um Einsichten zu pflegen.
»Immerhin«, versuchte ich es noch einmal, »könnten Einsichten in vergangene Perioden eine gewisse Bedeutung für die Aktualität haben. Roberto hat ja den gesamten Backlash nach dem Ende des Nachkriegsbooms bis zur Dauerkrise, in der wir immer noch stecken, sehr gut beschrieben. Von innen und von außen. Wie es war und wie es sich anfühlte. Die Stimmen mehren sich nun, dass wir uns in eine Sackgasse manövriert haben. Sogar Konservative outen sich als Marxisten. Man redet vom Ende des Kapitalismus.«
»Roberto war kein Historiker, auch kein Psychohistoriker. Obwohl er beides studiert hat. Die Geschichte ist schlicht zu komplex, um daraus einfache Lehren ziehen zu können. Die Geschichte der Menschheit geht sowieso bald zu Ende.«
Endlich ein vernünftiges Wort! Eine sehr weise Frau – aber sie wollte mich nur entmutigen und von der weiteren Suche nach den verschwundenen LeserInnen abbringen. Ihre Taktik war leicht zu durchschauen: Ermüdung des Gegners durch geistreiche Konversation. Dann Entsorgung. Ich verspürte zwar den Jetlag, aber der äußerte sich momentan noch in künstlich verstärkter Wachheit. Bis zum Kollaps.
Sie nippte am Tee und fuhr fort: »Abgesehen von den Verpflichtungen gegenüber deinen Freunden – worin bestehen deine Interessen an der Sache? Bist du Journalist? Schreibst du ein Buch? Bist du ein Philosoph? Oder ein Politiker?«
»Ich bin ein besorgter Bürger.«
Sie lachte laut heraus.
Ich spielte weiter: »Was willst du? Banken kollabieren, das Klima spielt verrückt, Freunde verschwinden, Vergangenheit und Zukunft sind in Krise, die Gegenwart ist konfus. Es wimmelt von Rezepten – aber die Orientierung fehlt.«
Sie spielte mit: »Ist nicht die Stimmung ähnlich wie vor der Französischen Revolution? In den Salons wird offen über den Untergang der alten Ordnung geredet, draußen herrscht Finanzkrise, Utopisten und Philosophen haben die wildesten Ideen, das Volk hungert. Der König weiß nicht weiter und beruft die
états généraux
ein, um sich Geld zu beschaffen. Aber die verstehen ihn falsch, setzen ihn ab und machen ihn um einen Kopf kürzer.«
»Das war nicht das Ende, das war nur eine neue Besetzung«, wandte ich ein, »du hast aber vorhin noch das Ende der Menschheit verkündet.«
»Du hast recht, heute ist alles qualitativ völlig anders. Wir stehen nicht vor einer neuen historischen Epoche, sondern vor etwas ganz anderem. Ray Kurzweil nennt es die Singularität – kennst du Ray Kurzweil?«
»Ja klar, er behauptet, dass ab 2030 die Computer die Geschichte übernehmen.«
»Es sind nicht nur die Computer. Alles entwickelt sich exponentiell. Geschichte, so wie wir sie kennen, war aber immer linear, auch wenn es zeitweilige Turbulenzen gab. Wir können nicht exponentiell denken. Information, Energie, soziale Entwicklungen, Waffensysteme – denk nur an die Nanotechnologie –, die Mittel werden sich schneller entwickeln als das Formulieren von Zwecken. Wir kommen nicht mehr nach. Wir werden überrollt werden. Wie damals die Neandertaler.«
»Sie wussten wohl nicht, wie ihnen geschah.«
Die armen Jungs in ihren groben Fellanoraks. Sie hatten keine Chance gegen die quirligen
Homines sapientes
in ihren
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