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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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der Agent aus der Dunkelheit kam, an sie herantrat, sie mit ein paar heftigen Worten nach Hause schickte.
    Der Pförtner kam aus seinem Häuschen. »Was machen Sie hier?« rief er barsch.
    Dann stand Sybille hinter Stahmer. Sie weinte. Ihre Haare waren aufgelöst. Er legte den Arm um ihre Schultern. Der Griff wurde zur Zange, die sie einfach mitzog. Die Aktentasche drückte nach unten. Handgranaten sind schwer.
    »Komm«, sagte Stahmer leise, beruhigend.
    »Lassen Sie mich los!« schüttelte sich Sybille.
    »Nein«, antwortete er, »ich muß dir das erklären … ich war … verrückt …«
    Ein Königreich für eine Ausrede, überlegte er, für eine schlechtsitzende Lüge, für ein bißchen Überzeugungskraft.
    »Du hast ganz recht gehabt«, sagte er wie von selbst, »ich habe getrunken.«
    »Ich will nichts mehr wissen«, erwiderte Sybille. »Sie haben sich benommen wie ein … Schuft.«
    »Ja«, erwiderte er, »aber das verstehst du nicht …«
    Er wunderte sich, wie sicher seine Stimme klang. »Ich habe eine Schwester … eine einzige … sie ist heute überfahren worden … tot …« Er blieb stehen, ließ das Mädchen los. »Begreifst du denn nicht … ich bin einfach durchgedreht … habe mich vollaufen lassen … ich häng' doch so an ihr …«
    »Und die Männer … eben?«
    »Freunde«, improvisierte Werner Stahmer weiter. »Sie haben mir die Nachricht überbracht … ich bin ausgerissen … und dann haben sie mich gefunden … Sie sollten auf mich aufpassen …«
    Wer das glaubt, ist blitzdumm, überlegte Stahmer. So einfältig kann Sybille nicht sein …
    Aber auf einmal hatte er einen Bundesgenossen: Mitleid. Es nahm dem Mädchen die Logik ab. Die Einzelheiten dieser letzten Minuten schwammen davon. Hier war ein einsamer Mann, erfaßte Sybille, der Hilfe brauchte, der etwas Schreckliches erlebt hatte …
    Sie schob tastend die Hand in seinen Arm. So gingen sie weiter, leicht aneinandergelehnt, durch die warme Sommernacht, schweigend. Um zweiundzwanzig Uhr fünf. Drei Minuten nach dem Anschlag, der nicht stattfand. Warum? Der Agent hatte sich das Fragen abgewöhnt. Fragen stellte der Mann, der Befehle gab: Reinhard Heydrich. Er trug Uniform und war blond. Und seine Augen waren klein wie Knöpfe und kalt wie Eis.
    Aus einer Kneipe kam Stimmengewirr. An einem Stammtisch wurde die Ungewißheit über Krieg und Frieden ertränkt. Sybille folgte dem Agenten willig in das Lokal. Sie setzten sich in eine Ecke. Stahmer bestellte Kognak. Eine ganze Flasche. Er schenkte ein.
    »Nicht trinken«, bat das Mädchen.
    »Ich muß«, entgegnete Stahmer zerstreut.
    Das erste Glas ging spurlos an ihm vorbei. Das zweite brannte auf der Zunge. Das dritte schmeckte. Das vierte brachte Erleichterung.
    »Seien Sie doch vernünftig«, sagte Sybille.
    Stahmer nickte. Er mußte zurück in das Hotel, wo die Komplizen jetzt mit Sicherheit auf ihn warteten.
    Er zahlte und ließ die halbe Flasche stehen. Er brachte das Mädchen nach Hause. Vor ihrer Tür zögerte Sybille. Er zog sie an sich, küßte sie flüchtig, beinahe gleichgültig. Sie wirkte steif wie eine Puppe. Die Lippen in ihrem Gesicht waren kühl und geschlossen.
    »Sie machen jetzt keine Dummheiten mehr?« fragte Sybille.
    »Nein«, versprach Werner Stahmer.
    Dann ging er weiter, trat aus dem Blickfeld wie aus ihrem Leben.

61
    Die Nacht war schwül und drückend. Nebelschwaden schwebten wie Leichentücher am Horizont. Tausende von Soldaten kauerten in feuchten Feldstellungen, auf abgemähten Stoppelfeldern, an Bächen in Feldscheunen. Sie warteten auf den Befehl zum Einsatz. Noch im Frieden, schon auf Kriegswache. Die Tanks ihrer Fahrzeuge waren voll bis zum Überlaufen. Ihre Geschütze mit scharfer Munition gefüttert. Ihre Gewehre zu Pyramiden zusammengestellt. Die Brotbeutel mit eiserner Ration gefüllt. Sie rauchten schweigend und starrten in die Nacht, die schon etwas von der Melancholie des Spätsommers an sich hatte.
    Die Stellungen der Soldaten lagen in Oberschlesien. Ihre Gedanken waren zu Hause. Ein Planquadrat in der Nähe von Oppeln, etwas außerhalb der Ortschaft Dreilinden, war vom Aufmarschplan ausgespart. Ganz plötzlich und ohne strategischen Grund. Ein Pionierbataillon hatte am Nachmittag den Befehl zum Abmarsch erhalten.
    Diese Einheit wurde von einem seltsamen Haufen abgelöst: Hundert Mann in Drillich-Anzügen. Hinter der mehr humpelnden als marschierenden Kolonne fuhr langsam ein Lastauto her. Dahinter ein PKW. Neben dem Fahrer

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