Prisma
werden, Evan auszusparen, da er ihrer Aufmerksamkeit nicht so dringend bedurfte.
Schließlich erschienen vier Ärzte. Zusammen repräsentierten sie mehr als die Hälfte des medizinischen Dienstes innerhalb der Assoziation. Ihre Namen waren weitaus länger und komplizierter als der von Azur. Evan gab sich damit zufrieden, sie mit Zahlen zu belegen und sie so zu identifizieren, wie er es mit den Studierern getan hatte.
Sobald ihnen die Bitte übermittelt worden war, gingen sie rasch an die Arbeit. Sie sahen ähnlich aus wie die Bibliothekare, wenngleich nicht so groß und ohne die typischen nach hinten zeigenden Hörner. Dafür verfügten sie über die außerordentlichste Ansammlung von feinen Tentakeln, Fingern und Zilien sowie spezialisierten Gliedmaßen, wie Evan sie noch nie an einem lebenden Wesen gesehen hatte. Diese setzten sie bei der Leiche des Kriegers mit wundervoller Geschicklichkeit ein.
Die Sektion wurde von den anderen Mitgliedern der Assoziation nicht vernachlässigt. Während sie ihren alltäglichen Aufgaben nachgingen, schauten die Artgenossen, die am Versammlungsort vorbeikamen, neugierig auf das Geschehen und fragten sich, was die Bibliothekare und der seltsame Alien wohl vorhatten. Nur die weniger Intelligenten, die schlichteren Individuen wie die Leitungsrohre und die Wände, kümmerten sich nicht um den Vorfall.
Evan verfolgte die Vorgänge mit höchster Konzentration und versuchte, sich die Innereien des Kriegers und ihre Funktion zu erschließen. Allzu erfolgreich war er dabei nicht. Es war eher so, als blickte er in eine Maschine und nicht so sehr in eine lebende Kreatur hinein – in eine fremde Maschine noch dazu. Ohne Metall und Plastik in den Eingeweiden.
Es blieb den Ärzten überlassen, ihn aufzuklären, indem sie mit ihm durch die Redner kommunizierten. Der dritte gestikulierte mit einem feinen Tentakel.
»Dort ist das Organ, das du sehen wolltest.«
Evan beugte sich über den geöffneten Körper. Der Arzt wies auf ein zylindrisches Silikatgebilde voll feiner Furchen und Riefen und zarter Einschlüsse. Es war hellgelb und leicht durchscheinend. Evan erkannte, wo die Furchen sich mit feinen Fasern verbanden, die durch den ganzen Körper verliefen.
Trotz des Fehlens von Blut und Fleisch musste er heftig schlucken und sich mit Macht zusammenreißen, als der Arzt auf seine Bitte hin das fragliche Organ herausholte. Es wurde an Evan weitergereicht, der sich bemühte, es mit jener wissenschaftlichen Distanz zu untersuchen, die er zu besitzen glaubte. Feine Fasern hingen bündelweise an beiden Enden herunter. Es war nicht sehr schwer.
Als er den Arzt fragte, wie dieses Organ genannt wurde, war er nicht überrascht, als das Bild, das sie ihm schickten, einem Herzen entsprach.
»Ich habe gesehen, wie ihr Beine und Augen ersetzt habt. Warum könnt ihr dieses Organ nicht einfach vergrößern? Liegt das außerhalb eurer Fähigkeiten?«
»Wir sind nicht dumm und blind«, erwiderte der zweite Arzt. »Der gleiche Gedanke ist uns auch schon gekommen. Aber sosehr wir das Herz auch vergrößern mögen, es scheint trotzdem nicht fähig zu sein, zusätzliche Energie zu erzeugen.«
Soviel also zu seiner genialen Idee, dachte Evan unwirsch. Er studierte das Organ genauestens. Wenn man es berührte, war es völlig trocken. Offenbar konnte es die Sonnenenergie nicht allzu lange speichern. Ein paar Stunden Dunkelheit zehrten seine Vorräte auf.
Wenn man es tiefgekühlt würde halten können, dann würde es vielleicht genügend Energie liefern, um jemanden wie Azur die lange Nacht wach durchstehen zu lassen. Er begann zu träumen. Das Organ in einem Bad aus flüssigem Stickstoff zu halten, riefe wahrscheinlich im restlichen Körper einige nicht besonders erwünschte Reaktionen hervor. Er legte das Organ vorsichtig wieder in den Körper des Kriegers und trat zurück.
Es war eine vielversprechende Idee gewesen, auch wenn sie sich als nicht durchführbar erwiesen hatte. Es schien, als wären Azur und seine Gefährten dazu bestimmt, der Willkür der nächtlichen Organosilikate ausgeliefert zu sein.
Nach dem, was die Bibliothekare ihm erzählt hatten, würden die Vwakoriten zurückkehren, diesmal vielleicht schwerer bewaffnet und darauf vorbereitet, sich mit einem fremden Gegner auseinanderzusetzen.
»Das ist nicht fair«, sagte er wieder, ohne daran zu denken, dass der Redner die Worte aufnahm und sie an jene weitergab, die in seiner Nähe standen.
»Wer hat je behauptet, dass das Leben fair ist?«
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