Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
die Andersartigkeit des Friedhofs gespürt, ohne sie zu verstehen. Auf dem Friedhof wurden schon lange keine Toten mehr begraben und die meisten Grabmale waren umgefallen oder verwittert. Eine Schicht von leuchtend grünem Moos bedeckte die Steine. Bäume, krumm wie alte Frauen, bewachten den Ort. Selbst wenn kein Wind wehte, flüsterten sie leise.
Jetzt, in dieser Nacht, machte die waldige Anhöhe einen verlassenen Eindruck. Elsa mühte sich, die Gedanken des hungrigen Raben zu durchdringen, und lenkte ihn hinab auf die Erde, mitten hinein in die schattige Dunkelheit des Friedhofs. Eigentlich wollte sie auf der Figur ohne Kopf landen, die etwas erhöht auf einem Felsen thronte, doch der Rabe hatte seine eigenen Wünsche. Er ließ sich ins Gras fallen und zog einen Wurm aus der Erde, den er sogleich verschlang. Mit aller Macht zwang Elsa das Tier, still zu halten und nicht weiter über das Gras zu hopsen. Eigentlich hätte sie jetzt sorgfältig nachdenken müssen, um herauszufinden, wo das Tor war und wie sie hineinkäme, doch all ihre Aufmerksamkeit wurde vom Raben verschlungen, der keine Lust hatte, zu bleiben, wo er war.
Immerhin waren seine Sinne so scharf, dass Elsa hören konnte, wie Menschen am Eingang des Friedhofs leise miteinander sprachen. Drei oder vier mussten es sein, Männer und Frauen. Dass es Möwen waren, die den Friedhof und das Tor bewachten, war nur zu wahrscheinlich. Der Rabe machte Anstalten, sich zu bewegen, Elsa unterdrückte sein Tun, woraufhin seine Muskeln zuckten und er nervös mit dem Schnabel in der Luft umherschnappte. Dann plötzlich hielt er erschrocken inne, da ein Schatten unmittelbar vor ihm aus dem Nichts auftauchte. Es war ein Mann, der zwischen zwei Steinblöcken hervorkam, dicht gefolgt von einer Frau. Die beiden sprachen nicht und gingen schnellen Schrittes an dem Raben vorüber.
Dort war es also das Tor. Elsa musste nur hineinlaufen, auf die richtige Weise. Sie musste die Lücke finden und die Lücke musste leer sein. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn ihr jemand entgegenkäme. Aber wie konnte sie sicher sein, dass sie das Tor sofort benutzen konnte? Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie bei der kaputten Kapelle in den Zerfurchten Wiesen über das Gras gelaufen war und nichts, aber auch rein gar nichts von einem Tor bemerkt hatte.
Während sie noch zögerte und abermals den Raben zum Stillhalten zwang, verständigten sich die neu angekommenen Menschen mit denen am Friedhofseingang. Elsa nahm es kaum wahr, da sie es für unwichtig hielt. Doch dann liefen sie alle gleichzeitig los, in Elsas Richtung, und drei weitere, die Elsa noch gar nicht bemerkt hatte, kamen von der anderen Seite. Mit einem Auge sah Elsa, dass sie ihre Arme bewegten, als würden sie mit etwas nach ihr werfen. Doch da war sie schon in der Luft, drehte einen großen Bogen und flog geradewegs auf die vermeintliche Lücke zwischen den Steinen zu.
Sie spürte das Tor und verfehlte es doch: Da war ein unsichtbares Loch, aus dem Tropfen von Haltlosigkeit spritzten. Ein Sog ging davon aus, ein Rufen und Ahnen, ein Gesang von Welten. Doch Elsa kam zu rasch angeflogen und flog vorbei. Dabei streiften ihre Flügel etwas Unsichtbares, das ihr einen Schlag versetzte, sodass sie fast wie ein Stein vom Himmel gefallen wäre. Wie die Ränder eines Netzes fühlte es sich an, wie Fasern von etwas Weichem, doch Kaltem, das ihr ins Innere fuhr und sie lähmte. Sie fiel, doch im Fall erholte sie sich von der merkwürdigen Erschütterung und gewann wieder an Höhe. Sie änderte die Flugrichtung und als sie genügend Raum gewonnen hatte, drehte sie noch einmal und schoss in verzweifelter Entschlossenheit auf die Stelle zu, von der sie hoffte, dass sie die richtige sei. Und wieder knallte sie gegen etwas, das zwar nachgiebig war wie Spinnweben, doch sie erschütterte wie ein Donnerschlag. Sie und der Rabe begriffen gar nichts mehr. Sich überschlagend fiel Elsa hinab, doch kurz bevor sie am Boden aufkam, flackerte das Tor wie ein Lebensquell in ihrem Bewusstsein auf. Es war nicht weit weg, nur ein, zwei Flügelschläge entfernt, und so warf sie sich im Sturz herum, auf die Lücke zustrebend. Als sie schon glaubte, sie habe ihr Ziel verfehlt und werde gleich von den Steinen gebremst und zwar für immer, da plumpste sie hinein ins Tor und glitt durch die Weltengrenze hindurch.
Eine komische, wilde Dunkelheit fing sie auf und wirbelte sie herum. Hier und da war die Dunkelheit von grauen Lichtern durchbrochen, um
Weitere Kostenlose Bücher