Rachekind: Thriller (German Edition)
hatte nie erfahren, ob sie die gleiche Veranlagung besaß wie ihre Großmutter, aber die Angst davor hatte sich bei ihr eingenistet wie ein Schmarotzer, der von ihren Zweifeln lebte. Sie stöhnte. Was für eine Wahlmöglichkeit. Entweder du wirst verrückt, oder Lilou ist von ihrem Vater besessen. Der Gedanke daran erzeugte eine neue Welle der Übelkeit.
Besessen. Mein Kind.
Sie humpelte zur Toilette. Die Übelkeit legte sich, und sie setzte sich auf den Klodeckel und hob das Bein an. Sachte bewegte sie die Zehen. Das Klumpfußgefühl ließ nach und wurde vom Piksen Tausender Ameisen abgelöst. Sie musste unbedingt schlafen. Wenn Pseudohalluzinationen durch Schlafmangel und Stress ausgelöst wurden, musste sie genau dort ansetzen. Hanna begann sich auszuziehen. Langsam. Bedächtig. Als sei es wichtig, jede Bewegung genau zu kontrollieren. Mit einem Klacken fiel Britts Talisman aus der Jackentasche. Sie hob ihn auf, öffnete das Ledersäckchen, nahm den Rosenquarz heraus und schaltete das Licht an. Dann wendete sie das Leder von innen nach außen. Ein Herz war darauf gemalt und darin die Worte: love forever. Steves Schrift.Sie schleuderte es von sich.
Als sie ihren Fuß vorsichtig auf den Boden stellte, war das Prickeln nur noch schwach zu spüren. Peinlich darauf bedacht nicht zum Spiegel zu blicken, humpelte sie ins Zimmer zurück. Dort kramte sie in dem Koffer nach ihrem Nachthemd, streifte es über und legte sich neben Lilou.
Am Kopfende befanden sich zwei Lichtschalter. Sie löschte das helle Deckenlicht und ließ nur die Nachttischlampe brennen. Vorsichtig äugte sie in den Spiegel. Nichts geschah.
Neben ihr schmatzte Lilou im Schlaf. Wie Steve.
Hanna schaltete das Licht aus und lag mit offenen Augen im dunklen Zimmer. Durch das Fenster schimmerte das Licht der Straßenlampen. Nach ein paar Minuten erkannte Hanna die Konturen der Möbel und hielt sich mit den Augen daran fest.
Sie hatte Steve im Spiegel gesehen. Es konnte kein Trick sein.
Wurde sie wie ihre Großmutter?
Sie musste zum Psychiater.
Man würde ihr Lilou wegnehmen. Sie in ein Heim stecken.
Hanna tastete mit der Hand über das steife Laken nach Lilou und zog sie abrupt wieder zurück. Als hätte sich eine unsichtbare Barriere zwischen Lilou und ihr aufgebaut, konnte sie ihre Hand nicht näher als ein paar Zentimeter an ihre Tochter schieben.
Koexistenz.
Es ist nur ein Wort. Ein dummes Wort.
Doch es hatte sich in ihr festgehakt wie ein Angelhaken in einem Fischmaul, und es zerrte an ihr, als wollte es sie mitsamt ihren letzten klaren Gedanken in eine unergründliche Tiefe ziehen. Sie richtete sich auf und betrachtete Lilous Konturen. Wartete auf die mütterlichen Gefühle, die sie sonst erfüllten, wenn sie Lilou betrachtete. Sie blieben aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich in Lilous Anwesenheit unwohl. Sie glaubte, Steve bei ihr zu spüren. Steve, der in ihr nur eine Geldquelle gesehen hatte und seine Tochter für seine Ziele missbrauchte. Und obwohl sie wusste, dass solch eine Koexistenz nicht möglich war, rückte sie von Lilou ab, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Sie ist deine Tochter! Wende dich nicht von ihr ab. Du glaubst diesen Unsinn doch nicht!
Hanna schluchzte auf. Was passierte nur mit ihr? Lilou war ihr Lebensinhalt. Ihr Ein und Alles. Wie konnte sie nur solche Gefühle zulassen? Sie presste die Handballen so fest gegen ihre Schläfen, als wollte sie mit Gewalt die wirren Gedanken in ihrem Kopf ordnen. Sie versuchte, eine logische Erklärung zu finden, eine Erklärung, die sie aufatmen und ruhig schlafen lassen würde. Doch sie wusste, dass sie keine finden würde, solange sie nicht bereit war, sich auf das Unerklärliche einzulassen, auf eine Reise in eine Welt, in der für Logik kein Platz war. Eine Welt, in der sie sich nicht auskannte und die sie furchtbar ängstigte.
48
1. April 1991
Luke ist jetzt den fünften Tag weg, und der Alte tobt. So scheiße drauf hab ich ihn noch nie erlebt. Keiner muckst. Die Stimmung ist so geladen, wenn da ein Funke fliegt, dann knallt das so, wie es hier noch nie geknallt hat.
Ich glaub, der Alte hat gemerkt, dass Zara weg ist. Wenn wir Glück haben, hält Linus dicht, und der Alte denkt, Zara hat sich zum Sterben irgendwo im Terrarium verkrochen. Ich weiß nicht, was Luke mit Linus ausgemacht hat. Vielleicht hat Linus dem Alten gesteckt, dass Luke Zara zermatscht hat. Dann sind Steve und ich aus dem Schneider. Aber ich hab trotzdem ein ziemliches
Weitere Kostenlose Bücher