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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Glassplitter lagen im Innern des Wagens, wie Edelsteine, in denen sich das Sonnenlicht brach. Das Handschuhfach stand offen und die Sitze waren aufgeschlitzt. Eva ließ den mit Medikamenten gefüllten blauen Müllsack sinken.
    »Sieht so die neue Welt aus?«, fragte sie Beck und zeigte auf das, was von ihrem Auto übrig geblieben war. »Muss ich mich daran gewöhnen? Müssen wir jetzt mit Mord und Sterben, Diebstahl und Zerstörung leben? Sagen Sie doch etwas! Sie sind doch Polizist, Sie müssen doch wissen, was hier los ist! Sagen Sie mir, wie es weitergeht! Erklären Sie mir diese Welt! Bitte«, schluchzte sie, »bitte erklären Sie es mir. Ich versteh das alles nicht. Bitte.«
    Joachim Beck nahm Eva in die Arme. Konnte er ihr sagen, dass er selbst nichts verstand, dass auch er nach einer Erklärung suchte, nach einer Antwort und nach einem Wegweiser? Er sagte nichts, hielt sie nur in seinen Armen und betrachtete über ihre Schulter hinweg den Parkplatz, auf dem neben Evas gelbem Wagen noch ein halbes Dutzend andere Fahrzeugwracks standen. Die Stadt selbst sah still und friedlich aus, wären da nicht die dunklen Rauchschwaden gewesen, die aus Westen heranzogen.
    »Kommen Sie«, sagte er schließlich. »Wir müssen los. Zu Fuß können wir vielleicht bis Sonnenuntergang bei ihnen zu Hause sein. Vielleicht finden wir unterwegs auch ein paar Fahrräder oder ein anderes Auto.«
    »Ich habe Angst«, sagte Eva. Sie rührte sich nicht von der Stelle.
    »Das hab ich auch«, gab Beck zu. »Aber wir können nicht hierbleiben.«
    Eva berührte wie zum Abschied ihren Wagen und nickte. Das, was vor ihnen lag, empfand sie als einen Irrgarten, ein Labyrinth aus Ungewissheit und Angst. Hinter jeder Ecke konnten Bedrohungen lauern, nichts war mehr, was es schien, keiner der, als den man ihn kannte. Das Krankenhaus war zur Gruft verkommen, Supermärkte zu Selbstbedienungsläden und Soldaten zu Verbrechern. Was wartete in Wellendingen? Wie ging es Lea, wie Hans?
    »Ja, gehen wir.«
    Pong-pong-pong.
    Das machen wir aber schön, lobte Nummer drei. Er flüsterte. Die Musik zu unserer Beerdigung. So lieblich und so zart.
    Thomas Bachmann saß auf dem Boden der engen Kabine und klopfte mit seiner Thermosflasche gegen die Wand. Pong-pong. Wie die junge Bisamratte in ihrer Falle. Pong.
    Nummer zwei schwankte zwischen Du klopfst zu laut! Wer weiß, wen du damit aufweckst?! und Du machst viel zu leise. So wird uns nie- mals jemand retten. Die Stimme hatte Angst um die Thermoskanne. Du weißt genau, was Mutter sagen wird, wenn du die Flasche zerbeulst! Du stehst dann wieder nur betreten im Hausflur und kaust an deinen Fingern … aber ich, ich muss mir ihr Gejammer und die bösen Unter- stellungen anhören! Also hör jetzt auf damit. Außerdem beschädigst du Krankenhauseigentum. Die Wand gehört dem Aufzug und der Aufzug gehört dem Krankenhaus.
    Aber Thomas klopfte weiter. Was sollte er sonst auch tun? Er hatte Hunger und er wollte in sein Bett. Wenn er hier rauskäme, wollte er nach Hause gehen und sich in sein Bett legen und lange, sehr lange schlafen.
    War es Abend oder Nacht oder ging soeben die Sonne auf? Pongpong-pong. Es gab keine Zeit mehr, pong-pong, ticktack, hihi, die Zeit vergeeeht!, es gab nur die Unendlichkeit des dunklen, einsamen Jetzt. Obwohl er irgendwann einmal geschlafen haben musste, war er so unendlich müde. Er war fast so müde wie damals, als sie ihn in der Psychiatrie auf eine Liege geschnallt und mit einem dünnen Leinentuch bedeckt hatten. Darunter war er nackt. Es war Nacht, nur ein rotes Notlicht über der fest verschlossenen Tür und ein dünner Mond hinter einem vergitterten Fenster. Sie hatten ihm Medikamente gegeben, die seinen drei Stimmen den Mund verschlossen – und seinen Mund öffneten. Thomas hatte die plötzliche Leere in seinem Denken nicht ertragen können. Als die Injektionen ihre Wirkung taten, war er plötzlich völlig allein mit sich und seinem nackten Selbst. Und auf die se Erfahrung hatte ihn niemand vorbereitet. Er konnte in den Win dun gen seiner Erinnerungen Bilder erkennen, Bilder, die ihn als zufrie denes Baby in den Armen seiner Mutter zeigten, Bilder von Kindern, die auf dem Schulhof Erdklumpen nach ihm warfen, Bilder von Einsamkeit, Bilder von Angst, Bilder von seiner ersten Erektion, der er einen Fleck im Bettlaken und Nummer zwei zu verdanken hatte. Mutter hatte den Fleck aus dem Laken gewaschen, Nummer zwei aber blieb.
    Sie hatten ihn sehen können, die Pfleger und Ärzte. Eine

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