Rattentanz
kleine Kamera, direkt unter der Decke und starr auf die Liege und den Patienten darauf gerichtet, schickte jede seiner Regungen auf einen kleinen Monitor und sie alle, dachte Thomas damals, sitzen davor und warten auf seine Regungen. Er wollte so gern schlafen in dieser Nacht in der Psychiatrie, aber die Stimmen, die ihn sonst in den Schlaf redeten, schwiegen beharrlich (Pong-pong-pong). Und obwohl er wusste, dass die Medikamente, die er nehmen musste, dies unmöglich machten, fürchtete er sich davor, eine Erektion zu bekommen, denn er war nackt, nur mit einem dünnen Tuch bedeckt und so den Blicken der heimlichen Beobachter ausgeliefert.
Er bekam keine Erektion.
Als damals erste rosa Schleier im Osten leuchteten und die Wirkung der stimmenvertreibenden Injektion langsam nachließ, fragte Nummer eins, ob er gut geschlafen habe. Und dabei war er so müde gewesen, so müde wie jetzt. Aber jetzt waren wenigstens seine Stimmen bei ihm, erkannte Thomas. Außenstehenden – wenn sie seine Stimmen denn hätten hören können – wären diese im ersten Augenblick sicher unterhaltsam vorgekommen, später dann belastend, denn er stand quasi vierundzwanzig Stunden täglich unter hundertprozentiger Beobachtung. Für einen Geheimdienstchef sicher der Idealzustand einer schönen neuen Zukunft, für einen normalen Beobachter ein Albtraum schlechthin, für Thomas ein beruhigender Normalzustand. Seine Stimmen waren Teil seiner Existenz, er war diese Stimmen, diese Stimmen waren Thomas Bachmann. In den Momenten, in denen Medikamente seine Existenz auf die eigene unvollkommene Daseinsform reduzierten, war er der einsamste Mensch der Welt und fühlte sich, als hätte man ihm Hände und Füße amputiert.
Pong-pong, klopfte er weiter, die Augen geschlossen, und lauschte auf die Worte in seinem Kopf.
Gedanken sind wie kleine Lichtblitze, die plötzlich aufleuchten und das Auge kurz blenden. Danach tanzt noch minutenlang das Echo des Blitzes über allem, was man sieht und macht es unmöglich, das Wesent liche deutlich zu fixieren. So ungefähr ging es in diesem Moment Eva. Beck hatte ihr seine wiedergefundene Dienstpistole gezeigt. Er hoffte, sie damit ein wenig zu beruhigen, ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Aber in Eva löste der Anblick der Waffe folgendes aus: die Erwähnung des Fundortes, unten in der Großküche, ließ sie noch einmal die Momente der letzten Nacht erleben, die Schüsse, ihre Flucht durch die Klinik und wie sie sich schließlich hinter einem Berg Leichen verbarrikadiert hatte. Als Nächstes fiel ihr wieder ein, dass die drei Männer jetzt gefangen im OP saßen, dass sie keine Gefahr mehr darstellten. Dann sah sie Aleksandr Glück vor sich und wie er und seine Frau an den Mitteln starben, die sie den beiden gegeben hatte. Und dann, dies nun der grelle Gedankenblitz, sah sie plötzlich Ritter, Mehmet und Fuchs, sah, wie die Männer in einem engen, vielleicht fensterlosen Operationssaal lagen und langsam verhungerten und verdursteten. Während Eva und Beck die schier endlose Güterstraße entlanggingen, parallel zur Bahnlinie und vorbei an einem leer stehenden Hotel, sah sie, wie die Männer irgendwann übereinander herfielen, gierig und fast wahnsinnig vor Hunger und Durst und Todesangst. Den kleinen Türken, der fast wie ein Mädchen aussah, würde es sicher als Erstes treffen. Ritter und Fuchs würden ihn packen und töten, um dann Stücke aus seinem Fleisch herauszuschneiden und es zu essen, nur um zu überleben. Fuchs wäre dann der Nächste, gegen den Bodybuilder hatte der keine Chance. Aber auch der Bodybuilder würde sterben, später zwar, aber mit der gleichen Gewissheit, mit der die Nacht dem Tag folgte, wartete auf ihn der Tod. Wenn er Glück hatte, wurde er vorher verrückt.
Und die Schuld daran trug sie! Sie hatte nicht nur Olga und Aleksandr Glück beim Sterben geholfen. Indem sie jetzt fortging, ließ sie zu, dass drei Menschen ein qualvolles Sterben bevorstand, ein langsamer Tod, der sich viele sadistische Tage Zeit nehmen würde. Und sie hatte es nicht verhindert.
»Wir müssen zurück!«, sagte sie plötzlich und blieb stehen.
»Wir müssen was?!«, fragte Beck.
»Zurück zum Krankenhaus.«
»Wenn wir jetzt umkehren, können wir es gerade vergessen, dann kommen wir heute wahrscheinlich nicht mehr im Hellen nach Wel-lendingen. Wieso überhaupt? Brauchen Sie noch etwas aus der Klinik? Ist etwas mit den Medikamenten nicht in Ordnung, die sie Glücks gegeben haben?«
»Nein«,
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