Ravanas Rueckkehr
einer zartgliedrigen Silberkette baumelte.
Während sie las, kam ihr wieder und wieder Mila in den Sinn. Sie wollte nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Mila irgendetwas mit den Todesfällen zu tun hatte, doch sie konnte nicht anders. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
Rama, ein Sterblicher, war die Inkarnation eines Gottes. Er war ein großer Held, dessen Taten überall bekannt waren, und er war glücklich mit der schönen Sita verheiratet. Ravana, der unzerstörbare Dämon, der sogar einen fliegenden Triumphwagen besaß, war nie zufrieden und gierte unentwegt nach mehr. Der Neid, den er Rama gegenüber gehegt hatte, war in all den Jahren, in denen er beständig überlegt hatte, wie er Rama vernichten und alles, was ihm gehörte, an sich reißen konnte, längst in glühenden Hass übergegangen. Als Ravana erfuhr, dass Rama mit seiner Schwester (die so abscheulich war, wie es nur die Schwester eines Dämons sein konnte) aneinander geraten war und sie verletzt hatte, beschloss er, dass es an der Zeit war, seine Fantasien in die Tat umzusetzen.
Er entführte Sita und zerrte sie an den Haaren in seinen fliegenden Triumphwagen und nach Lanka. Doch egal, was er tat, egal, in welcher Gestalt er sich zeigte oder was er sagte, ob er nett und freundlich war oder sich als das zürnende, kreischende Monster zu erkennen gab, das er war - Sita widersetzte sich ihm. Angesichts der gewaltigen Macht Ravanas vermutete Willow, dass auch Sita sehr viel Kraft besaß.
»Gut gemacht, Mädchen«, murmelte Willow.
Rama begab sich auf eine lange Reise und stellte sich vielerlei Gefahren. Überall suchte er nach Sita, bis er schließlich auf der Insel Lanka landete. Aber um zu Ravana und Sita durchzudringen, musste er erst durch einen ausgedehnten Wald, der von Rakshasa bevölkert war. Dieser letzte Teil der Reise erwies sich sogar für Rama als niederschmetternde Erfahrung, doch schließlich schaffte er es und stellte Ravana mit Pfeil und Bogen. Ein schrecklicher Kampf entbrannte, begleitet von einer Menge Blutvergießen und beängstigenden Gestaltwandlungen. Ramas Pfeile trafen, doch Ravana zog sie einfach aus seinem unzerstörbaren Körper heraus. Schließlich legte Rama einen Pfeil an, der von dem Gott Wischnu persönlich gefertigt worden war und dessen Macht in sich trug. Mit diesem Pfeil erfüllte Rama die Prophezeiung, nach der Ravana von einem Sterblichen getötet werden würde.
Natürlich war das nicht wirklich das Ende Ravanas. In der hinduistischen Mythologie schien niemand jemals wirklich zu sterben; sie kamen alle immer und immer wieder zurück.
»Also, was wollen die Rakshasa in Sunnydale?«, fragte sich Willow laut, während sie eine Illustration der Rakshasa anklickte.
Das wirre, an eine Traumdarstellung erinnernde Bild sah aus, als hätte sich der Künstler nicht entscheiden können, wie er die Kreatur darstellen sollte. Sie war kurz und gedrungen, beinahe wie ein Zwerg, und trug einen langen Mantel, der Körper und Beine verhüllte. Aus dem Mantelkragen lugte ein Echsengesicht hervor. Kleine Ohren, die die Form von Elefantenohren hatten, hingen an dem unverhältnismäßig großen Kopf. Gleich über den schlitzförmigen Augen befand sich ein runder, spitz zulaufender Auswuchs; Willow brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es sich um Hörner handelte. Sie sahen aus wie die eines Rindes, die eben erst zu wachsen begonnen hatten. Es wirkte fast so, als würde die Kreatur lächeln, und oberhalb der Unterlippe waren die Spitzen der rasiermesserscharfen Fangzähne erkennbar.
Etwas an der Illustration jagte Willow kalte Schauer über den Rücken. Sie betrachtete sie eingehend. Es war beinahe, als wäre ihr die Kreatur... vertraut. Das war natürlich albern. Sie hatte keine Ahnung von der Mythologie der Hindus, und sie war fest überzeugt, nie zuvor etwas wie diese Rakshasa auf ihrem Monitor gesehen zu haben.
Aber dennoch ...
Die Rakshasa waren Ravanas Getreue, die sich mit fiebrigem Ehrgeiz jeder seiner Marotten unterwarfen. Sie befolgten seine Befehle ohne Fragen, ohne zu zögern, sie töteten für ihn, und manchmal starben sie für ihn - und offensichtlich blieb ihnen immer noch genug Zeit, dann und wann einen Hund oder ein Pferd zu fressen.
Also, wenn die Rakshasa zu Ravana gehören, dachte Willow, warum ist er dann jetzt nicht hier bei ihnen?
»Vielleicht ist er das ja«, beantwortete sie ihre Frage selbst, und wieder lief ein kalter Schauer über ihren Rücken.
Willow las mehr von
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