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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Widmer
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Heidelbeeren (an ihrem Ende). Auf den Wiesen sammelten wir faust- und manchmal sogar kindskopfgroße Boviste (auf die ganz alten traten wir drauf, auf die schon gelben, so dass sie stiebend zerplatzten und ihrem Namen, petalufi , Wolfsfürze, alle Ehre machten). In den Wäldern Steinpilze, die meine Mutter briet oder unter einen Risotto mischte. Bergfinken flogen auf, Frösche sprangen weg, im Steilhang des Carden pfiffen Murmeltiere. Vipern hie und da, unter Steinen verschwindend. Ich fürchtete mich vor Vipern.
    Wir sammelten Brennholz für den Herd, und wenigstens ich trachtete danach, einen schier untragbar großen Ästehaufen zu schleppen. Ich ging unter so vielen Ästen vergraben, dass gerade noch meine zwei Beinchen zu sehen waren, und taumelte eher, als ich ging. Ich musste den Kopf so gebeugt halten, dass ich nur den Boden direkt unter mir sah. Aber ich kannte jeden Stein des Fußwegs, jede Felsplatte, jeden Tritt. Ich wusste immer, wo ich war. Äste stachen mich in den Rücken, vor allem, wenn ich einen heftigeren Schritt tat. Erst wenn ich einen Bach auf einem Brett überquert hatte und beim Spaltstock hinterm Haus angekommen war – so ein Holzweg war glattweg einen Kilometer lang –, warf ich die Arme in die Höhe wie ein Atlas, der Feierabend hat. Meine Last – Brennholz für eine Woche – polterte hinter mir zu Boden. – Dann kamen auch Mami mit einem immer noch respektablen Bündel und Nora mit ihren zwei Ästen. – Holzhacken mochte ich auch. Ich tat es gern. Unnötig zu sagen, dass mein Vater beim Holzsammeln nie dabei war. Das Holzhacken versuchte er einmal, ein Ast fegte ihm ins Gesicht und schlug ihm die Zigarette aus dem Mund. (Es gibt aber ein Foto vom jungen Vater, da hängt er, wo nur?, an einem Seil in einem Steilhang und ist dabei, eine riesige Tanne zu fällen. Ein Rätsel. Wozu brauchte er eine Tanne?) – Jetzt lag dieser Papi, in einem Buch lesend, auf dem Rücken vor der Bretterwand, die quer zum Nordwind zwischen dem Haus und dem Bach stand und hinter der es so warm werden konnte, dass er seine Strickjacke auszog, die Ärmel hochkrempelte und seine Glatze eine Färbung annahm, die er gebräunt nannte, die aber einen handfesten Sonnenbrand anzeigte. Mein Vater war auch bei Sonnenbränden eigensinnig, kein Mensch hätte ihn dazu gebracht, eine Mütze zu tragen.
    Nora und ich spielten mit unsern Gummizwergen oder fischten mit Angelruten, die Spazierstöcke waren. Die Angelleine war eine Paketschnur, der Haken eine zurechtgebogene Büroklammer. Der Köder ein Stück Karotte oder Brot. Wir konnten uns nicht erklären, wieso wir nie eine Forelle fingen. – Wir durchquerten den Bach in einem Laufschritt, der einerseits nicht so hastig sein durfte, dass wir ins Wasser fielen, andrerseits aber auch nicht so langsam, dass uns die Krämpfe schon während des Laufens überwältigten. So oder so hüpften wir dann mit schmerzenden Füßen am andern Ufer herum, stöhnend und lachend in einem. Der Bach hieß Poschiavino und rauschte auch; er war ja auch respektabel breit; aber wer einmal die Lonza gehört hatte, ließ sich von ihm nicht beeindrucken. Von seiner Gletscherkälte allerdings schon.
    Um zehn Uhr morgens kam die Post, der Postbus, der im Sonnenlicht freundlich aussah. In jenem ersten Jahr war er grau. Später dann wurde er grün – ein scheußliches Grün! – und endlich, wie es sich gehörte, postgelb. Auch der Chauffeur hatte sich schon am ersten Morgen in einen lustigen Mann verwandelt, der mit uns Kindern Scherze machte und bald einmal – für ein, zwei Sommer – von der Bildfläche verschwand. Weswegen, das verstand ich nur halb. Er hatte etwas Böses mit einer jungen Frau aus Poschiavo getan, einem Mädchen fast noch, und musste ins Gefängnis. Aber alle in La Rösa bedauerten ihn, sogar Delia, die einen Hang zur Gnadenlosigkeit hatte. Ich glaube, er heiratete das Mädchen dann; jedenfalls saß er eines Tages wieder am Steuer, als sei nichts gewesen. Er war der Beste. Wie er aus seinem Bus kletterte, wenn der wieder einmal Front an Front mit einem Auto aus Holland oder Belgien stand, den schweißnassen Fahrer von seinem Sitz scheuchte und das fremde Fahrzeug mit unnachahmlicher Eleganz an seinem Bus vorbeibugsierte! Kein Bleistift hätte auf dem verbleibenden Raum zwischen Reifen und Abgrundkante Platz gehabt! Er stieg aus, legte die Hand an die Pöstlerkappe, die er nicht trug, kletterte wieder hinter sein Steuer und fuhr weiter, als sei so ein Manöver das Natürlichste

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