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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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an zahllosen Holztüren vorbei, die in den Fels gepresst waren wie Datteln in den Teig. Hinter jeder lag, wie Naif wusste, ein schlichter, unscheinbarer Raum, so wie der, in dem sie nach ihrer Erleuchtung gelegen hatte. Sie widerstand dem Drang, sie alle zu öffnen und hineinzusehen, und konzentrierte sich lieber auf die lauter werdende Musik.
    »Hier ist es«, sagte sie schließlich. Sie blieb stehen und gab Charlonge die Fackel. Dann legte sie die Hände an die Wand, um nach einem Spalt oder einer Fuge zu tasten.
    »Aber da ist keine Tür«, sagte Charlonge.
    Naif biss sich auf die Lippe und ließ die Finger weiter über den Fels gleiten. »Es muss hinter dieser Wand sein … ich bin mir sicher.«
    »Wie sollen wir dahin kommen?«
    Naif wandte sich dem älteren Mädchen zu. »Was hast du in den Büchern noch so über die Mönche gelesen? Denk nach, bitte.«
    Charlonge holte nervös Luft und warf einen Blick zurück. »Wie kannst du so ruhig bleiben? Joel ist auch so.«
    »Du wirst das schaffen, Char. Denk an all die Neuen, um die du dich gekümmert hast. Denk dran, wie du mich gepflegt hast.«
    »Aber das hier ist etwas anderes. Wir tun doch was Verbotenes.«
    »Das ist es nur, was sie dich glauben machen wollen. Angst hält den Geist gefangen.« Das wusste Naif jetzt. Darauf basierte alles in Grave. Joel hatte es lange vor ihr verstanden. »Es muss einen Weg durch die Wand geben, zur Musik.«
    Charlonge presste die Hand flach an die Stirn, während sie nachdachte. »In dem Buch steht, dass die Mönche Knochen in den Tunneln fanden. Auf ihren Zeichnungen liegen sie auf Haufen in den Ecken. Ich nehme an, das bedeutet, dass sich hier, bevor sie kamen, Katakomben befunden haben.«
    »Katakomben?«
    »Grabkammern. Krypten.«
    Naif wusste, was Krypten waren. In Grave standen sie neben den normalen Wohnhäusern, nicht getrennt von den Lebenden, wie nach Sukis Erzählungen der frühere Friedhof ihres Dorfes. Manche Krypten in Grave waren größer als ihr Haus. In jeder befanden sich eine Wand mit Sargschubladen und daneben ein Gestell für die Vasen mit getrockneten Blumengestecken. Außer für die Familien der Ratsmitglieder. Diese Krypten – sie erschauderte – bestanden aus Marmor, und darin erhoben sich Statuen mit leeren Augen. Dort fand man keine Sargschubladen, sondern auf jedes Mitglied wartete eine Grabstelle unter dem Boden des Empfangssaales, die von einem eigenen Muster im Marmormosaik gekennzeichnet war.
    Mit großen Augen starrte sie Charlonge an. »Du bist so clever!«
    »W-was ist?«
    Naif zeigte mit dem Finger nach unten und schrappte mit dem Fuß über den glatten Boden. »Der Eingang befindet sich unter uns.«
    »Oh, nein«, stöhnte Charlonge leise. »Bitte, nein.«
    Aber Naif ließ sich auf die Hände sinken und tastete nach einem Spalt, Haken oder Riegel. Gleich neben der Wand in einer Kuhle, die hinter dem Felsüberhang verborgen und von vielen Händen glatt gewetzt worden war, fand sie ihn schließlich. Der schartige Rand schürfte über ihre Finger, als sie ihn nach oben zog, doch nichts regte sich.
    »Es geht nicht auf. Ich finde, wir sollten zurückgehen«, flüsterte Charlonge.
    Aber Naif wollte noch nicht aufgeben. Nun schob sie den Riegel horizontal, woraufhin sich ein Rechteck im Boden öffnete, genau vor der Stelle, an der sie kniete. Markes Musik strömte die Stufen hinauf.
    »Schnell, Char.«
    Aber Charlonge rührte sich nicht, sondern presste den Rücken gegen die Wand.
    Naif gab ihr die Fackel zurück. »Bleib hier und sorg dafür, dass die Tür offen bleibt. Ich will da unten nicht gefangen sein.«
    Sie schob die Beine über den Rand der Öffnung und stieg die grob gehauenen Wendelstufen langsam hinunter. Alle paar Schritte blieb sie stehen, um auf Stimmen zu lauschen.
    Unten angekommen stand sie vor zwei dicken Steinsäulen. Durch die Lücke dazwischen konnte sie einen großen Raum ausmachen.
    Naif schlich zu den Säulen und spähte hindurch.
    Alle Riper waren gekommen. Sie saßen aber nicht an einem Tisch, wie sie erwartet hatte, sondern standen im Kreis. Lenoir hatte ihr den Rücken zugewandt, neben ihm sah sie Test auf der einen und Graselle – der einzige anwesende Mensch – auf der anderen Seite. Lenoir im Kreis gegenüber stand Brand, flankiert von Modai und Forlorn.
    Etwas weiter entfernt an der Wand sah sie Markes kauern, der seine Gitarre wie einen Schild umklammert hielt. An seinen Knöcheln waren Ledermanschetten, die mit einem Eisenring an den Boden gekettet waren.

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