Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
und war erleichtert, als die Sterne erloschen und sie das Höhlensystem des Abraxas betraten.
Die erste Höhle war klein, eher eine Eingangshalle, in der die Riper standen und die Eintreffenden musterten. Schnell betraten sie und Suki die nächste, die breiter war und von der mehrere Gänge in verschiedene Richtungen abgingen. Aus einer der Steinwände war eine erhöhte Bühne gehauen worden. Darauf stand eine Band und stimmte ihre Instrumente, von denen Retra die meisten nicht kannte.
»Krissie-sagt-im-Abraxas-finden-in-allen-Höhlen-Auftritte-statt-Jetzt-müssen-wir-nur-noch-die-finden-in-der-Markes-ist.« Sukis schnelles Gerede machte Retra nervös. Genauso wie ihre abgehackten Bewegungen.
Auf einmal hatte sie das Bedürfnis, ein wenig Abstand zu Sukis glitzernden Augen und schnellem Mundwerk zu gewinnen. »Wir könnten getrennt suchen«, sagte sie.
Unruhig tänzelte Suki auf den Zehenspitzen. Tränen füllten ihre Augen, dann rannte sie ohne ein weiteres Wort davon.
Retra wollte ihr gerade nachlaufen, als sich Finger um ihr Handgelenk schlossen und sie herumrissen.
Modai .
»Hast du’s eilig, Fledermäuschen? Warum denn nur?« Er zog die Lippen zurück, um seine scharfen Zähne zu zeigen. »Was hast du gesehn? Wen hast du gesehn?«
Zwei weitere Riper traten zu ihm, einer davon war Forlorn, d en anderen kannte Retra nicht. Sie umstellten sie, sodass sie das Licht des Clubs fast gänzlich abschirmten. Sie versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzuschieben, doch Modai packte wieder ihr Handgelenk, diesmal so fest, dass es wehtat.
Retra stellte sich vor, wie sie neben dem Schmerz stand, so wie sie es in Grave geübt hatte. Sie hatte die Folter des Gehorsamkeitsstreifens überlebt, während andere daran gestorben waren. Genauso würde sie auch das hier überstehen. »Niemand.«
»Warum bist du dann gerannt?«
»Ist Rennen etwa verboten?«, fragte sie.
»Geheimnisse vor uns zu haben, das ist verboten.«
Sie erwiderte seinen Blick. Hielt ihm stand. Sie würde ihm nichts sagen.
»Wegen dir gibt es unter den Wächtern Streit«, zischte Modai. »Ich wusste doch, dass man dich im Auge behalten muss. Sag mir, was du im Schilde führst, oder …« Er hob die andere Hand, als wollte er sie schlagen.
Retra drehte sich zur Seite. Seine Fingernägel schnitten in ihre Haut, als sie sich losriss.
Sie rannte zu einem der Gänge, doch die Riper waren vor ihr, bevor sie ihn erreichen konnte. Wie war es möglich, dass sich Menschen so schnell bewegen konnten?
Retra warf einen Blick zur Tanzfläche zurück. Der Tumult hatte die Aufmerksamkeit der Tanzenden erregt, die jetzt stehen blieben, als sich eine hochgewachsene Gestalt einen Weg durch ihre Mitte bahnte.
»Modai?«
Sofort trat der Riper mit gehorsam gesenktem Kopf zurück. »Lenoir.«
»Was hat diese kleine Fledermaus getan, dass du ihr so zusetzen musst?«
»Ich spüre ihre Falschheit.«
»Hat sie gegen eine unserer Regeln verstoßen?«
»Nein, Lenoir.«
»Dann schlage ich vor, dass du und Leyste euch eine andere Belustigung sucht.« Obwohl Lenoirs Stimme weich, fast sanft klang, erstarrte Modai.
Leyste? Retra suchte das Gesicht des unbekannten Ripers – war er Leyste? Was fanden Leyste und Modai nur daran, sie zu quälen?
Sie blickte zu Lenoir zurück, doch der starrte weiter Modai an. Beide hatten blasse Haut und glattes Haar, beide waren schlank und muskulös. Wie kam es, dass diese Kombination bei Lenoir so anziehend und bei Modai so abstoßend wirkte?
»Hey, hallo! Tut mir leid, stör ich?« Jemand stürzte mitten in die Gruppe hinein und brach die Spannung.
Es war Rollo. Sein rotes Haar war schwarz gefärbt und klebte schweißnass am Kopf, seine nackte Brust war mit verschlungenen Tattoos bedeckt. Grinsend legte er Retra den Arm um die Taille und gab ihr einen nassen Kuss auf die Lippen. »Ich hab schon überall nach dir gesucht.«
Retra wurde steif, wehrte sich aber nicht. Rollo fühlte sich heiß und feucht an, seine Haut wirkte an ihrem nackten Arm und Hals schlüpfrig. Sein Atem roch süß wie der ihres Vaters nach den Gebeten, wenn er den Gebetswein getrunken hatte. Dann war er in ihr Zimmer gekommen und hatte in weinerlichem Ton von der Enttäuschung über seinen Sohn gesprochen und außerdem von seiner tief verwurzelten Überzeugung, dass es ihr nicht gelingen werde, denselben Weg einzuschlagen. Bewahr dir deine Reinheit, Retra , hatte Vater gesagt, immer und immer wieder. Bewahr dir deine Reinheit.
Doch dann schabte Charlonges Warnung
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