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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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lautet:
     
    TOPFPFLANZEN, SORGFÄLTIG GEPFLEGT WIE SÄUGLINGE
     
    Ich muß schon monatelang hiergewesen sein, ohne es zu merken. Ich muß hier mit irgend etwas eifrig beschäftigt gewesen sein, aber Gott weiß womit, alles trägt die Spuren des Arbeitszimmers eines emsigen und geschäftigen Menschen, alles trägt Spuren von Leben, aber dennoch...
    Ich weiß nicht, wie viele Perioden meines Lebens ich gelebt habe, ohne es zu merken, aber zusammen müssen es viele Jahre sein.
    Als hätte jemand anders an meiner Stelle mein Leben in die Hand genommen, während ich irgendwo anders war.
    In solchen Zeiten sehe ich so aus, als nähme ich am normalen Leben teil. Nur jemand, der mit mir zu reden versucht, merkt, daß ich nicht zuhöre. Der Stellvertreter wirkt täuschend echt.
    Er kann zu Konferenzen gehen, pfiffige Zeitungsartikel über einfältige Gegner schreiben, die darüber erbost sind und ihrerseits pfiffige Artikel über mich schreiben. Ich stelle mir vor, daß sie richtig zufrieden sind, wenn sie ihre Artikel fertig haben, daß sie hoffen, sie würden eine ganze mörderische Wirkung auf mich haben.
    Ach ja. Genauso mörderisch wie ein polemischer Artikel gegen König Sigismund III. von Polen. Denn in solchen Zeiten bin ich ungefähr so wirklich wie das vertrocknete Skelett von König Sigismund, wie es da in seinem Kalksteinsarkophag im Dom unterhalb des Krakauer Schlosses liegt. Spinnweben bedecken mein Gesicht, das mumifizierende Harz dringt tief in meine Adern ein, mein Herz ist ein altes, dünnes, sprödes und bräunliches Blatt unter den Mumienbinden. Ich schlafe unter schweren Kalksteindeckeln, auf meinem Epitaph ruht in schönem Marmor mein Bild mit Krone und Zepter, die Schulklassen gehen flüsternd vorbei.
     
    Mich findet niemand.
     
    MICH FINDET NIEMAND
     
    Der Stellvertreter kann unterdessen eine ganze Menge erledigen. Er reist zu Kongressen und macht neue Übersetzer für meine Bücher ausfindig, so daß sie in völlig überraschenden und ausgefallenen Sprachen herauskommen und meine Kollegen daheim in Schweden krank werden vor Ärger und Neid. Er spricht mit illusorisch schleppender, schläfriger Stimme im Westdeutschen Rundfunk. Er geht zur Bank. Er fährt einen Sportwagen, den er von einer schönen Dame in Grunewald geborgt hat. Er verbringt einen ganzen Nachmittag damit, einer Malerin in Kreuzberg die Pinsel zu reinigen. Er geht in den Zwiebelfisch am Savignyplatz, läßt sich von der schönen Frau Carola mit den langen roten Haaren Zwiebelsuppe servieren und frotzelt die Theaterkritiker. Er tobt, wenn er mit Stockholm telefoniert, so daß Stockholm den völlig illusorischen Eindruck bekommt, es gäbe mich noch.
    Und am Zoll in Frankfurt am Main tastet der Wachtmeister des Grenzschutzes mit harten Polizistenfingern meine Rippen ab, auf der Suche nach meinem terroristischen Revolver (Polizisten haben eine gute Nase und ahnen unfehlbar, daß irgendwas wirklich faul ist, wann immer der Stellvertreter einen Zoll passieren will).
    Ach ja, er ahnt nicht, daß seine Finger Rippen abtasten, unter denen seit dem siebzehnten Jahrhundert kein Herz mehr geschlagen hat, daß unter dem Rollkragenpullover ein paar braune, vertrocknete Skelettreste sind, die in einem Grab in Krakau ruhen.
    Ich beherrsche, kurz gesagt, eine sonderbare Kunst. Ich muß sie sehr früh gelernt haben, im Alter von drei oder vier Jahren. Wenn die Welt zu ermüdend, zu anstrengend oder ganz allgemein zu beschissen ist, verlasse ich sie ganz einfach. Ich lebe, ohne zu leben. Ich bin wach, ohne wach zu sein. Ich höre zu, ohne zu hören.
    Ich beherrsche eine sonderbare Kunst.
     
    ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE SIE NIE ERLERNT
     
    Bei alten Russen (warum reden wir nur immerzu von Rußland) gibt es eine gute, abergläubische Furcht vor Verrückten, eine Furcht, die ebenso Menschenliebe ist wie Ehrfurcht. Der sabbernde Idiot, der sich so besabbert, daß das ganze Kinn naß wird, und seinen schweren Kopf von einer Seite auf die andere wirft, diese alte Frau mit dem wilden Gesichtsausdruck und den grauen, schmutzigen, strähnigen Haaren, die an einer Straßenecke steht und heftige Selbstgespräche führt, irgendwelche Tiraden, die niemand verstehen kann, von ihnen sagt man, daß wir ihnen Ehrfurcht schulden: Denn ihre Seelen sind bei Gott.
     
    Ich möchte nur wissen, in wessen Obhut meine Seele ist?
    Irgendwo ist sie, sie schaut interessiert zu und gibt dem Stellvertreter ermunternde Winke. Und der schuftet lustig drauflos, dieser arme Teufel,

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