Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
zu sagen pflegt, wenn er seine allerbissigste Laune hat.
INTENSIVE ERLEBNISSE LAUFEN GEFAHR ZU ERSTARRTEN ERINNERUNGSBLÖCKEN ZU WERDEN SAGTE JAN DAVOR SOLLTE MAN SICH IN ACHT NEHMEN SAGTE JENNY
Ein anderer Anfang ist San Franzisko, im Frühjahr 1972. Da draußen im eiskalten Wasser der Bucht liegt eine Insel, Alcatraz, auf Alcatraz liegt ein Gefängnis, ganz tief unten in den Kerkerlöchern gibt es ein besonders tiefes Verlies, und in diesem Verlies ist mein, Sigismunds, Herz:
»Ich hatte die Kreolen tanzen sehen, Hand in Hand über den grünen Rasen des Parks, zum Klang einer kleinen Flöte oder Hirtenpfeife. In die Kabelstraßenbahn stieg am Union Square ein chinesisches Mädchen ein, so redselig, so munter, so lustig, daß sie den ganzen Wagen zum Lachen brachte. Sie war sehr kokett, trug schwarze Hosen, einen schwarzen Pullover mit einem lila Baumwollbändchen um die Taille und ging lachend und scherzend von einem Passagier zum anderen.«
Auf Anhieb ist es nicht so leicht zu erkennen, aber eine Geschichte, die auf diese Weise beginnt, wird uns mit unerbittlicher Logik in das västmanländische Winterdunkel hineinführen, zu einem kleinen, unglücklichen Ort, der Trummelsberg heißt, und deren Hauptperson ein Lehrer an der Zentralschule ist, dessen einziger begabter Schüler von der erbarmungslosen Mechanik des schwedischen Wohlfahrtsstaates umgebracht wird. Aber so ist es nun einmal.
Es gibt nur eine Möglichkeit anzufangen, und zwar hier und jetzt. Verlorene Zeit kann man niemals wiederbekommen, man kann sie höchstens zurückerobern, und auch dann nur auf die vage Art, die der Dichter meint, wenn er (im Auftrag der Schwedischen Akademie) sagt, daß wir innerhalb der schwedischen Grenzen Finnland zurückerobern sollen.
Ich lernte Miroslav letzten Herbst im Keller kennen.
Es gibt hier in Berlin einen Keller, in der Görresstraße, wo der Verein der jungen radikalen Buchhändlergehilfen Mittwoch abends Lesungen zu veranstalten pflegt. Ein kalter, schrecklich ungeheizter und unbequemer Raum mit einem Schulpult hoch oben auf einer Plattform, wo der Vortragende auf einem Stuhl balanciert, ständig in Gefahr, ins Publikum hinabzufallen.
Dort kann man die Männer des Jahres 1968 antreffen, die nicht Abteilungsleiter in einem Ministerium, Ministerialräte, Forschungsassistenten oder Projektleiter der bundesrepublikanischen Bildungsreformprojekte geworden sind. Es sind braunbärtige nette Kommunisten mit Goldrandbrille, Mädchen in schwarzen Ledermänteln mit langen offenen Haaren. Nach den Lesungen, die oft fürchterlich schlecht sind, gibt es eine kleine Diskussion, bei der meist festgestellt werden soll, ob das Vorgetragene mit den letzten Erkenntnissen des Marxismus übereinstimmt, und in der Regel tut es das nicht, denn ist es im Sinne von Lukács, dann ist es nicht im Sinne von Benjamin, und ist es im Sinne von Benjamin, dann ist es nicht im Sinne von Adorno, und ist es im Sinne von Adorno, dann ist es nicht im Sinne von Engels, und all das ist entsetzlich kompliziert, und wenn es eine intelligente Alternative zum Marxismus gäbe, dann müßte sie morgen eingeführt werden, aber alle Alternativen sind noch unintelligenter, und dann geht man gewöhnlich in eine sehr gemütliche kleine Kneipe am Friedrich-Wilhelm-Platz, die Bundeseck heißt.
Dort habe ich Miroslav letzten Herbst kennengelernt. Ich entdeckte ihn, kaum daß ich zur Tür hineingekommen war, und bemerkte mit diesem speziellen Gefühl von Unbehagen, das man nur in solchen Situationen hat, daß er mir auf eine ärgerliche Weise ähnlich sah.
(Kürzlich bekam ich eine Postkarte. Er schreibt, daß er wieder in Sofia ist und daß alles sich ganz gut anzulassen scheint. Es sieht so aus, als würde er einen Redakteurposten im Naturwissenschaftlichen Jugendverlag bekommen. Und eine Wohnung hat er auch bekommen, ein Zimmer mit Kochnische in einem der neugebauten Stadtteile.)
Aber letzten Herbst saß er da allein in einer Ecke und schmollte, ein kleiner Mann in einer Lederjacke, mit einem großen braunen Bart, Goldrandbrille, freundlichen, aber etwas verwirrten braunen Augen.
Ich setzte mich mit einem winzigen Glas Schnaps zu ihm und sagte, es sei ein ungewöhnlich teuflischer Smog, den wir in den letzten Tagen gehabt hätten. Das habe mit dem Eindringen von Polarluft zu tun. Man könnte meinen, kalte und klare Luft aus Skandinavien müsse die Luft verbessern, aber das ist keineswegs der Fall. In Wirklichkeit verhindert die
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