Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
der Möglichkeiten geflüstert, als gehörte sie nur mir (oder fast nicht einmal das), als wäre sie ein Kuriosum, das es nur dort geben könnte. Ich hatte geredet, ohne auch nur einen Augenblick lang zu begreifen, daß ich von der Welt aller Menschen, einer gemeinsamen Welt sprach.
Die Lyrik der sechziger Jahre: wieviel Genialität bei einem Tranströmer, einem Sonnevi, einem Forssell! Die Lyrik der sechziger Jahre: wieviel Genialität umsonst! Oder war es nur so, daß ich ihnen meine eigene Trauer und Machtlosigkeit zuschreiben wollte?
Vielleicht waren es nur diese verschwundenen Sommer, diese verschwundenen glasklaren Wintertage, an denen ein Fenster geöffnet wird und plötzlich einen Lichtstrahl ins Zimmer wirft oder ein kleiner schwarzer Hund ziellos übers Eis davonläuft, die fröstelnde Unruhe in den verschwundenen Wintern der sechziger Jahre, die ich verleugnen wollte. Sprich über die Schulter! Sprich gegen den Wind! Sonst besteht Gefahr, daß du gehört wirst!
Mitten im Schnee, hätte ich fast gesagt, entdeckte ich eine neue Malerei, eine, die nicht aus leerer Gewitztheit bestand, keine tote Fabrikation sich anpreisender Handelsobjekte, vielmehr eine, die mit Überzeugungskraft und Wärme redete. Eine neue Kunst strampelte schon in ihrer Gebärmutter. Sie kam von unerwarteter Seite.
In ihrem Atelier, wo Ranken aus dreißig Blumentöpfen sich an den hellen Wänden entlangschlängelten und wo kleine Wildkaninchen über Tische und Stühle sprangen, zeigte mir Ulla Viggen den blauen, endlosen Sommerhimmel, über den dünne Wolkenstreifen zogen, und erklärte, daß sie ohne jedes Gefühl von Anstrengung male, mit einer Kunststoffarbe, die innerhalb von einer Minute trockne und danach nicht mehr verändert oder retuschiert werden könne. Jan Håfström lehnte sich in dem Schaukelstuhl vor, in dem er während des ganzen Gesprächs still gesessen hatte, und sagte mit plötzlicher Überzeugung:
– Ich muß dies wiederholen: es gibt einen Ozean auf allen Seiten.
Was hatte ich von diesen Menschen zu lernen? Was sahen sie? Was wurde hier vorbereitet?
In einer Gesellschaft, die morsch war von Lügen und Kompromissen, in der nicht nur die Menschen, sondern auch der Staat selbst im eisenharten Griff größerer Mächte gefesselt waren, in der die Ruhe gewahrt wurde durch das stupide Geflatter des Fernsehens, durch die Müdigkeit und Betäubung der Muskeln, durch die feste Überzeugung, daß alles, was uns zustieß, Natur war und sich nicht würde verändern lassen, sprach jemand: von der Überwindung der Angst, von einem Ozean, den es auf allen Seiten gab.
Und die Wintertage vergingen, immer schneller, als wollte die Zeit etwas. Briefe kamen an, Briefe und Zeichen, auf bekannten und unbekannten Kanälen.
Während der Revolution von 1830 streift Hector Berlioz durch die Straßen von Paris. Barrikaden, ausgerissene Bäume, geschwärzte Fassaden, Tote... Und vor allem: Menschen in Bewegung, ein Volksgewimmel, erschreckte, unklare, entschlossene Gesichter. Er hat Angst vor dem Schrecklichen, aber er fühlt sich auch sicher. Sicherheit und Angst vermischen sich, und er geht mit raschen Schritten den Boulevard mit seinen abgesägten Bäumen entlang.
Weiter unten hört er auf der Straße Gesang, eine singende Gruppe von Handwerkern und Gardesoldaten, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten: sie singen seine eigene Musik, eine seiner Hymnen, aber mit neuen Worten, aus der feierlichen Hymne ist ein Revolutionslied geworden! Mit seiner prachtvollen Stimme schließt er sich den Sängern an, er singt mit, ein Handwerksbursche, der den Gesang leitet, ein baumlanger Kerl mit pickligem Gesicht, ein richtiger Klugscheißer, verbessert ihn an einer Stelle, verbessert ihn, Berlioz!
Jetzt lernt er etwas über sich selbst, das er noch nicht wußte. Auch dies gehörte zu dem, was seine Musik wollte: sie war nicht nur für ihn selbst da.
Der Winter vergeht, Schneematsch platscht einem um die Füße, die Briefe häufen sich, die Herausforderungen häufen sich, die Trauer setzt ihr Werk fort.
Eines Abends sitze ich im Restaurant Gourmand, in der Nähe des Sveavägen, allein, mit einem dieser gegrillten Beefsteaks, die das einzige sind, was Stockholms sterile, phantasielose Restaurants bieten können, einen wäßrigen, einen unbegabten Wein im Glas, und dazu eine halbgare Kartoffel in Stanniolpapier. Ein paar eigentümlich feminine Jünglinge neben mir reden mit lispelnden Stimmen von der »entzückenden« Einladung bei
Weitere Kostenlose Bücher