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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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passieren: Man bringt mich nach Schweden zurück und sperrt mich an einem Ort ein, wo man mich mit so vielen schädlichen Chemikalien vollpumpt und so viele Watt oder Kilowatt oder Megawatt durch mein armes vernarbtes Gehirn schickt, daß ich einfach nicht mehr das intellektuelle Niveau halten kann, auf dem man einen anständigen Wahnsinn einigermaßen artistisch ausspielen kann. Bald werde ich durch das Schutznetz der Tranquilizers auf die Ebene hinunterfallen, wo man mir wieder einen anständigen Job als Korrektor anbieten kann. Diese Gesellschaft kann es sich nicht leisten, die Menschen ihre Verrücktheiten in Ruhe ausleben zu lassen. Ein voll ausgelebter Wahnsinn ist etwas für einen reichen Privatmann mit einer netten unverheirateten Schwester, die sich um den Aufwasch kümmert. Wenn Nietzsche in unserer Zeit leben würde, müßte er ein Stipendium beantragen.
    Also vergessen wir’s! Menschlich und biologisch gesehen scheint es wirklich günstiger zu sein, ein paar Polizisten zusammenzuschlagen, und ich argwöhne, daß es dem gesellschaftlichen Prestige weniger schaden würde.
     
    DIE MAUER TÜRMT SICH AUF, HOCH UND GRAU
     
    Die Mauer türmt sich auf, hoch und grau, am äußersten Rand von Kreuzberg. Sie ragt zwischen schrecklich verfallenen Mietskasernen, Zigeunerlagern und Autofriedhöfen auf, mit ihren hohen Wachttürmen, Scheinwerfern und Sperrzonen hinter der Hügelkuppe. Und eigentlich fällt sie gar nicht besonders auf.
    Hier draußen, wo die Häuser aussehen, als sei ihr Verputz von Aussatz befallen, wo kleine Zigeunermädchen, dunkel und lebhaft in ihren farbenprächtigen Kleidern, zwischen Autowracks und Müllhaufen spielen, hier, wo die Häuser sich fast gegen sie lehnen und wo es geheimnisvoll in den Fenstern der düsteren, lärmenden Textilfabriken blinkt, hier wirkt die Mauer völlig natürlich.
    Sie ist ganz einfach die Grenze der Welt.
    Ist das denn so unbegreiflich? Warum sollte die Welt keine Grenze haben?
    Ist es nicht viel schwieriger, sich ein grenzenloses, ständig expandierendes Universum vorzustellen, in dem die Galaxien schneller als die Splitter einer explodierenden Granate auseinanderrasen?
    Ich argwöhne, daß ich Grenzen zutiefst ablehne, wie ich schon sagte. Aber Grenzen sind praktisch.
    An dieser Grenze werden hin und wieder Menschen erschossen, dann hört man im Dunkel der Nacht kurze, deutliche Maschinengewehrsalven. Jemand schreit. Nach einer Weile ertönen die Sirenen der Krankenwagen auf der anderen Seite.
    Die Leute, die dort sterben, bezahlen den Preis für den Sozialismus, den Preis dafür, daß die Währung der DDR nicht auf ein unhaltbares Niveau absinkt.
    O.K. Ihr sagt, daß ihr dagegen seid, Leute zu erschießen, um eine Währung auf einem vernünftigen Niveau zu halten.
    Das bin ich auch. Ich bin entschieden dagegen, daß überhaupt auf Menschen geschossen wird. Noch vor etwa einem Jahr hat man Vietnamesen bombardiert, und trotzdem ist der Dollar auf ein gefährliches Niveau abgesunken.
    Ich bin dagegen, daß man Menschen bombardiert.
    Aber so geht es zu in der Welt, versteht ihr. Ob wir nun dagegen sind oder nicht, so geht es zu.
    Da ist es doch nicht so verwunderlich, daß man Lust bekommt, in einen richtig schönen, richtig seiltänzerischen Wahn zu fliehen?
    Wenn ihr das sonderbar findet, deutet das nur darauf hin, daß ihr privilegiert, dumm, phantasielos und ein bißchen boshaft seid.
    Ich argwöhne, daß der überwiegende Teil meiner Leser privilegiert, dumm, phantasielos und ein bißchen boshaft ist. Ich kann jedoch nicht sagen, wen ich nun genau meine.
    Das ist schade.
    Hier draußen an dieser Stelle in Kreuzberg wirkt die Mauer sehr viel freundlicher, weil jemand mit roter Farbe in halbmeterhohen Buchstaben draufgepinselt hat:
     
    MADE IN GERMANY
     
    Das ist gar nicht so dumm. Ich weiß, wer es war.
    An einem schönen Nachmittag Ende Mai, als alle Kastanien ausgeschlagen sind und ein feiner, frühlingshafter Nieselregen durch die Luft fällt, als ich nach Kreuzberg hinausgefahren bin, um türkisches Hammelfleisch zu kaufen – die Türken in Kreuzberg haben ganz hervorragendes Hammelfleisch –, steht er plötzlich mitten auf einer Straßenkreuzung, riesig und bärtig, ein richtiger Faun, und spielt dem Verkehr auf seiner Flöte etwas vor.
    Die Autofahrer hupen wie wild und weichen aus, daß die Reifen nur so quietschen. Er läßt sich nicht stören. Die spröden Töne seiner Querflöte durchdringen den Lärm der wütenden Hupen und lebensgefährlich

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