Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Telefon, mit Kurbel und blanker Gabel. Wer hineinspricht, muß seine Stimme verändern.
(Namnamruf – was ist das für ein Ruf?)
Wo man schweigt und einander nur ansieht, ohne ein Wort zu wechseln, da ist alles gefroren, da ist Eis und Stille. Ein paar vereinzelte Möwen verirren sich über die Hausdächer und schweben in der Luft darüber hin, verschwinden aber wieder auf den großen See hinaus. Es ist eine reinere Luft. Die Bäume stehen im Herbst ganz still, und es gibt ein paar Häuser, die sehen aus, als hätten sie Fenster wie Augen, Augen, die stieren können. Was sehen solche Häuser mit ihren Augen?
(Und warum diese Angst vor Augen? Ist es eine Angst davor, gesehen zu werden, oder eine Angst, nicht gesehen zu werden? Noch als ich zwanzig war, fiel es mir sehr schwer, Leuten in die Augen zu sehen; jetzt, da die Wißbegier schon längst die Angst überwunden hat, sehe ich so tief in sie hinein, wie ich nur kann, bis ich es fast als Berührung empfinde; ich gebe nicht auf!)
Es ist eine sehr stille Welt. Manchmal kommt Schnee in gewaltigen Mengen, die Straßen sind kaum mehr befahrbar, immer mehr Schnee, schließlich liegt die ganze Welt in Schnee gehüllt da, die Häuser verschwinden, die Bäume verschwinden, eine einzige Fläche, über die der Schnee in schnellen kleinen Wirbeln dahinzieht.
Aber dann gibt es das Reden. Wir reden uns wieder warm. Dort drüben, auf der anderen Seite der Pistolgatan und immer weiter ostwärts reden sie, und könnte man so weit hören, dann würde man einen ganzen Chor von Stimmen hören können, ein Gemurmel, sie reden, Telefone klingeln, Stimmen rufen, die Arbeiter an den entsetzlichen Bohrmaschinen reden laut miteinander, sie sind dabei, die Straße neu zu pflastern, an der Bushaltestelle (Buslinie I, prachtvolle blaue Wagen, die ein paar Jahre später noch prachtvoller werden mit dem schwarzen Rauch und den Feuerflammen aus ihren Treibgasgeneratoren) reden zwei Mädchen miteinander.
Je weiter nach Osten, desto mehr Reden.
Es ist die Welt der Menschen, und ihr Reden ist das einzige, was mir sagt, daß es sie gibt, was mich mit ihnen verbindet. Die Schwerkraft zieht mich in ihre Richtung, nach Osten, ich spüre die Anziehungskraft ihres Redens, und das Gemurmel sagt mir, daß es die Welt gibt.
Ich liebe diese warme Welt,wo man redet. Alles zieht mich dorthin. Plötzlich .
Das Wort plötzlich benutze ich immer noch öfter als die meisten anderen Menschen.
Plötzlich bedeutet, daß die Welt von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr dieselbe ist. Wenn es am ruhigsten ist, kann das Unwetter kommen. Es gibt keine Gleichgewichtslage, keine Ruhe, die nicht im nächsten Augenblick vom heftigsten Sturm abgelöst werden könnten.
Hier herrscht Wärme, Ruhe, fast Geborgenheit: »plötzlich« zieht es sich zum Sturm zusammen, Fenster schlagen, ein Brief kommt mit der Post, das Telefon klingelt, Katastrophen brechen herein gleich schweren Wellen: was gerade noch so sicher war, ist »plötzlich« unwiderruflich verloren.
»Plötzlich« verändere ich mich selbst. Ordnung, Gleichgewicht, Harmonie, die Arbeit geht mir leicht und ohne Anstrengung von der Hand, ich tue meine Pflicht, es herrscht Ruhe zwischen mir und der Welt, meine Kinder spielen auf dem Hof, ich höre ihre hellen Stimmchen.
Wenn sich dann die Welt nicht »plötzlich« verändert, verändere ich mich. Ich werde unruhig, verzweifelt, die Gedanken verwirren sich, ich kann nicht mehr schreiben, nachtschwarze Unruhe, Dunkelheit und Elend überrollen mich in Wellen, Zorn und Bitterkeit sammeln sich in mir an.
Nach außen hin bleibe ich kalt. Niemand hat je meine Hand zittern sehen, wie die Hände meiner Kollegen auf einer Verlagskonferenz manchmal einen Augenblick lang am Pfeifenkopf zittern, wenn sie meinen, ihre besten Ideen verpfuscht zu sehen, nicht einmal meinem Blick kann man eine Veränderung anmerken, es ist nur dieses »plötzlich«.
Die Unruhe angesichts dieses »plötzlich« verdirbt mir auch meine besten Stunden, denn wenn alles ruhig ist, bedeutet das nur, daß »plötzlich« noch nicht eingetreten ist. Und durch dieses Paradox kann »plötzlich« die ganze Welt vergiften.
(»Plötzlich« fielen die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, plötzlich, um drei Uhr nachts, klopfte es in einer Wohnung in Mitteleuropa an die Tür, schwere Stiefel schlurfen draußen die Treppe hinauf, »plötzlich« im Februar erschienen die Bombergeschwader über Dresden, »plötzlich« kamen sie am nächsten Morgen
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