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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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zurück, als die Feuerwehren sich in der brennenden Stadt abkämpften, und weit oben an den Alpenhängen fand man Papiere, die aus den brennenden Apotheken hinaufgewirbelt waren, fünf Eimer füllten die Eheringe der Toten.)
    »Plötzlich« ist keine Phantasmagorie, es ist eine Wahrheit, nicht nur über mich, sondern eine Wahrheit über die ganze Welt.
    »Plötzlich«, wie ich an der Hand meiner Mutter gehe, kommt ein Motorradfahrer die Straße entlang, der Lärm erschreckt mich fast zu Tode, ich versuche, mich in einer stachligen Weißdornhecke zu verstecken, und steche mich natürlich an all den spitzen Dornen. »Plötzlich«, als ich froh und glücklich vom Kiosk her komme, sehe ich eine Frau, häßlich, unförmig, die ein Kind in meinem Alter auf einem Schlitten zieht. Das Kind ist riesengroß, es muß hundert Kilo wiegen, und die leeren blauen Augen in seinem entsetzlichen Wasserkopf betrachten mich höhnisch.
    »Plötzlich« wird mich begleiten, bis ich sterbe.
    Aber »plötzlich« nähern wir uns dem ersten Kreis, und das ist kein Scherz mehr, versteht ihr:
    Oh, mein Vergilius, mein Lehrer, mein Begleiter (in unserem Jahrhundert muß es schon in den unteren Kreisen eine Frau sein, die uns führt), nun mußt du bei mir sein, strecke deine sommersprossige Hand aus, denn jetzt spüre ich schon die Nähe des ersten Kreises!
    (Aber jetzt kannst du ja nicht bei mir sein, denn jetzt bist du ja nur ein sehr fettes kleines Mädchen, das noch nicht recht laufen kann und entsetzlich abstehende Ohren hat. Dich erschrecken jetzt die großen runden Metallkugeln an dem Denkmal für Otto Lilienthal (der als erster mit einem Drachen flog), wenn du im Park von Lichterfelde auf der Lichtung zwischen den Bäumen spielst.
    Oder kannst du vielleicht trotzdem bei mir sein? Dann zeig mir den Weg! Komm!)
     
    Der Gebrauch des Imperfekts.
    Gehe mit Madeleine in den Park, es ist schon in den siebziger Jahren, Januar, klirrend kalt, und sage zu ihr:
    – Das war aber mal ein schöner Spaziergang.
    und sie antwortet:
    – Wie meinst du das? Er hat ja noch gar nicht richtig angefangen?
    – Ich meine, daß er schön war.
    – Möchtest du, daß wir wieder heimgehen?
    – Aber nein.
    Ich meine nur, daß das ein schöner Spaziergang war.
    – Du willst damit sagen, daß er schön ist .
     
    Zeit wie Kristalle, Standbilder aus Schnee, Schneemänner, als sähe jemand anders in einem alten, vergilbten Fotoalbum die Bilder, die ich gerade sehe, ich habe nicht genug Vertrauen, nicht genug Zuversicht, um im Präsens zu reden.
    (Zur Zeit des blutigen Zusammenbruchs des Inkareiches wurde ein alter Indianer von einem Jesuitenpfarrer interviewt, es ist eine von den wenigen Aufzeichnungen, und er sagt: »Es gab vier größere Winde, sie kamen aus den vier wichtigsten Himmelsrichtungen, nämlich...«)
    Bilder, man kann nicht unterscheiden zwischen Bildern von etwas und Bildern von etwas, das ist, wenn man nicht glaubt, daß die Welt sich verändern und beeinflussen läßt. Ich selbst werde ebenso unerreichbar und unzugänglich für Liebe oder Argumente wie jener Herr auf der Panoramapostkarte (vergilbt) von 1902 aus Boston, die man zu Hause bei Onkel Fritz in einen Apparat schiebt, so daß das Bild dreidimensional wird und man hineinsehen kann.
    (Der Herr geht übrigens in einem Hafen spazieren, Baumwollballen werden auf die Schiffe verladen, und Männer mit kleinen Karren machen sich mit ihnen zu schaffen. Ist der Herr mit dem Strohhut ihr Aufseher, ihr Vormann? Oder ist es nur ein Tourist, der im Hafen spazierengeht? )
    Ich rede im Imperfekt. Ich sehe die Welt in Bildern, liebe sie, sammle sie, kehre zu ihnen zurück, beschreibe sie, als wollte ich, daß sie mir helfen sollten, etwas zu beweisen.
    (Daß ich ebenso unbeweglich bin wie sie.)
    Das Imperfekt gebraucht derjenige, welcher glaubt, daß alles unwiderruflich ist, daß es fertig zu ihm kommt, daß er sich niemals selbst sein Leben wird schaffen können.
    Imperfekt bedeutet, die Geschichte mißzuverstehen (und zu glauben, daß sie immer im Imperfekt steht), Imperfekt bedeutet, nicht zu verstehen, daß die Welt, daß unser Leben von uns erzeugt wird.
    (Und daß wir also imstande sind, eine Welt ohne Imperfekt zu schaffen.)
    Imperfekt bedeutet, sich für Mineralogie zu halten, wo wir doch ein lebendiger Strom sind. Es ist möglich, ein ganzes Leben im Imperfekt zu verbringen, im Imperfekt zu reden, zu essen, zu lieben, ja, in diesem blinden Tempus zu denken, sich so weit von all den anderen

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