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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Zeitformen zu entfernen, daß du, wenn du eine lebendige Hand über deine Hand streichen siehst, sagst: sie strich mit ihrer lebendigen Hand über meine Hand.
    und dann kommt das Eis, und schließlich kannst du sehen, wie jene, die im Imperfekt gelebt haben, im Eis festgefroren sind, ihre Gesichter knapp über der bläulichweißen Eiskante, ihr Atem raucht wie aus frisch geöffneten Angellöchern an einem Sonntag im Februar auf dem Mälarsee, wenn sie schließlich aus ihrem Eis heraus zu reden versuchen, und es ist entsetzlich...
    (Begleiterin, ich sehe sie von hier aus deutlich genug, zwinge mich nicht, näher zu gehen!)
     
    Das Reden ist Wärme, Mütterlichkeit, Wiege. Das Reden ist Form, mütterliche Kraft. Und schon damals, 1939, habe ich beim Reden das Gefühl (ich sitze oft auf der Toilette und rede ununterbrochen mit mir selbst), daß nicht ich es bin, der redet, sondern daß jemand in mir redet, etwas, das so ursprünglich ist, daß es älter ist als die ältesten Bilder.
    (Der Umzug zur anderen Straßenseite hinüber: ich trage allein eine Backrolle und habe Schwierigkeiten beim Laufen, weil ich gerade erst laufen gelernt habe: 1937)
    Das Reden ist etwas Weibliches, ist das Weibliche in mir. Zu reden,
    (und später zu schreiben)
    bedeutet die einzige Geborgenheit, die einzige Wärme, die es in der Welt gibt.
    Und angesichts dieses »plötzlich«, dieses »Imperfekts« gibt es nur einen Ausweg, eine Verteidigung; und das ist das Reden.
    Irgendwo an der Pistolgatan beginnt das Reden, dann wird es immer mehr, je weiter man kommt, es wächst zu einem großen Gemurmel an, ja, es wird immer mehr (und ihr habt keine Ahnung, wie die Stimmen mit den Jahren an Stärke und Zahl zugenommen haben).
    Das Reden : ich erinnere mich an meine Stimmen. Die erste ist so klein und schrill, daß sie weder männlich noch weiblich ist, sie gleicht der eines Vogels. Und dann kommt eine Zeit, eine schreckliche, qualvoll genierende Zeit, wo ich mit einer kleinen, einer absichtlich kindlichen Stimme rede, obwohl ich schon zur Schule gehe: ich will mich so klein wie möglich machen, so unbedeutend, daß niemand mich entdeckt. Und natürlich ist das Ergebnis gerade umgekehrt; man findet mich komisch, fremd, wie ein seltsames Tier, das sich bei den Menschen eingeschlichen hat und das reden kann. Und ich staune noch heute über die Toleranz, mit der man mir begegnete. Man mißhandelte mich nur ein klein wenig, man lachte mich aus, aber nur ein klein wenig,
    (Geruch von Pissoirs, und Balsampappeln und der Kies auf dem Schulhof) man hatte auch irgendwie Angst vor mir, und wenn einer der Lehrer (und sie waren wirklich Lehrer, denn indirekt, durch ihre eigene Verachtung und ihre eigene Brutalität lehrten sie mich alles über die Unterdrückung und die Brutalität, die in der Gesellschaft herrschten, in der sie mit ihrer Arbeit betraut waren, mit ihren Ohrfeigen, ihrem Haarzausen, ihren Linealschlägen auf zerbrechliche siebenjährige Finger – und das war damals nicht etwas, das eben so war und auch hätte anders sein können, sondern es war ihre einzige Art zu existieren, die einzige Art der Welt zu existieren – und nicht, wie ich es jetzt sehe, ein Spiegel, der nur ihr eigenes Bild von den Verhältnissen wiedergab und die Verhältnisse selbst, unter denen sie lebten.)
    einen Sündenbock suchte, der aus der Reihe herausgeholt und geohrfeigt oder ausgeschimpft oder mit dem Zeigestock auf den Hintern gehauen werden sollte, zur Warnung für alle anderen, wählte er immer mich und zeigte damit ganz deutlich den Ekel, den wachsenden Widerwillen, den im Grunde alle gegen mich hegten
    (und noch heute kann ich niemals eine Grenze passieren, wie neulich nachts im Taxi die italienische Grenze bei Brissago, ohne daß man ausgerechnet mich und mein Gepäck für eine eingehende Musterung auswählt)
    und auf die gleiche Weise habe ich ein für allemal mich selbst dazu ausgewählt, gemustert zu werden, und weiß, daß ich das muß, und schließlich habe ich gelernt, daß die einzige Art, sich mustern zu lassen, das Mustern ist, und ich sehe mit ebenso offenen, musternden Augen dem Musternden ins Auge, so daß wir einander mustern, und wir erleben beide einen Augenblick der Liebe und des Hasses, und das Reden beginnt wieder,
    und wir lassen einander in Ruhe.
     
    Ich . Alle Menschen nennen sich »ich«, und es gibt nur einen einzigen, der sich zu Recht »ich« nennt, und das ist der, der gerade in diesem Augenblick redet. »Ich« bedeutet also: »der

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