Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
mit dem Essensgeruch, und die kurzen Stiefel der Mädchen (in dem Alter, in dem man sie wirklich braucht und in dem sie einen von allem Bösen erretten könnten, haben sie noch unbestimmte, verschwommene Züge und haben noch nicht zuhören gelernt) und wie sie, in Wolle und Essensgeruch gehüllt, herumlaufen, und das kleine Kino Fyris, das die ganze Filmgeschichte wieder und wieder zeigt, und der Geruch von feuchten Wollsachen, ich fange wieder an, wir geben nicht auf, und ich weiß die ganze Zeit über, daß hier etwas nicht stimmt,
(ich stelle mich selbst als ziemlich schmal, mager und bleich dar, Mitleid heischend und mit einer Art abwartender Haltung allem gegenüber, was mich umgibt, und das ist offenbar alles Lüge)
In Uppsala, im Vorfrühling 1958, sehe ich folgendermaßen aus: ich bewege mich in einer unbeschreiblichen, etwas schaukelnden Gangart, von der ich später etwas, aber nicht viel, zurückbehalten werde. Ich schaue gern auf die Straße hinunter oder zur Wand hin, und wenn ich manchmal jemandem begegne, den ich allem Anschein nach grüßen muß, tue ich das mit übertriebener Freundlichkeit. Ich habe bereits angefangen, eine gewohnheitsmäßige Verbindlichkeit zu entwickeln, die im Grunde das genaue Gegenteil ist und die ich gegen Ende der sechziger Jahre mit großer Entschlossenheit abzulegen versuchte, als ich schließlich ihre Unaufrichtigkeit erkannt hatte.
In dieser Gangart drücken sich meine Unsicherheit und zugleich ein fast brutales Selbstvertrauen aus. Meine Stimme ist müde, gedehnt und nasal, die Artikulation nicht immer die beste, und wenn sie rechthaberisch wird und sich ereifert, wird sie auch ein wenig schrill.
Mein »brutales Selbstvertrauen« äußert sich in einem völligen Mangel an Respekt vor Autoritäten, ich traue meinen Professoren nicht über den Weg, ich kann kühl und abweisend selbst mit den Menschen sprechen, die mir ein wohlwollendes Interesse entgegenbringen, meist, um sie auf die Probe zu stellen und zu sehen, ob ihr Interesse auch dafür noch ausreicht.
Ich habe keine Ahnung, wie abstoßend ich wirke, wie anmaßend und zugleich abweisend ich mit den Menschen in meiner Umgebung reden kann.
Und abwartend? Hol’s der Teufel! Ich möchte mich nur bitten lassen, weiter nichts. Mit sicherem Instinkt habe ich erkannt, daß der nur halbwegs Interessierte, der nur halbwegs Bekehrte, der nur halbwegs Gläubige immer die Oberhand hat, immer einen bedeutend größeren Einfluß ausüben kann als der schon Bekehrte, der schon genau Definierte. Allem Unbestimmten, Abwartenden wohnt eine Macht inne; man kann sie benutzen und kann auch von ihr benutzt werden.
Wenn ich mich selbst sehe, im Vorfrühling 1958 in Uppsala, dann meine ich ein Spiegelbild, den Abdruck einer Mythologie, eines ganzen Gefängnisses von Mythologien zu sehen, aber ich kann sie nicht benennen.
Und schon etwas weniger wirklich.
In diesem Winter befindet sich Johanna Becker in Paris. Sie sitzt auf einer Bank im Jardin du Luxembourg, mit einem kleinen ungewissen Lächeln, ein Buch auf dem Schoß. Ihr Gesicht hat weder Autorität noch Schwere, sie ist ein schüchternes kleines Mädchen. Der lange, billige Baumwollrock hat ein lustiges Muster aus Laternenpfählen, das zu der Zeit vielleicht gerade in Paris populär war. Sie hat eine dicke Jacke oder einen Mantel über den Schultern und dazu einen dicken Schal. Zu ihren Füßen steht eine Aktenmappe aus irgendeinem billigen Material.
Sie hat sehr wenig Geld und teilt es an verschiedenen Tagen abwechselnd für Essen und für Bücher ein. Sie blättert oder liest in einem dicken staatswissenschaftlichen Buch, das gerade herausgekommen ist und für dessen Verfasser, einen bekannten Professor, sie eine ohnmächtige Liebe hegt. Sie besucht alle seine Vorlesungen, und er nimmt es nicht wahr oder gibt vor, es nicht zu bemerken. Das Buch, in dem sie blättert, ist teuer. Damals, 1958, hat es 42 Mark gekostet. (Sie kann es sich schwer abgewöhnen, in Mark zu rechnen. Sie schaut schüchtern in die Kamera, und ich glaube, der starke Sonnenschein ist ihr lästig. Sie singt, mit einer schönen klaren Sopranstimme, die ich nie gehört habe, und an bestimmten Tagen in der Woche singt sie im Chor des Pariser Konservatoriums mit. Dadurch hat sie auch einen kleinen Nebenverdienst. Sie ist sehr schüchtern.)
Das ist ja entsetzlich! Ich kann mich selbst nicht so beschreiben, wie ich im Jahre 1958 aussah! Ich weiß es ganz einfach nicht. Ich erinnere mich daran, wie
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