Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
groß und klein läuft ihnen nach und feuert sie an und hilft ihnen über all die Hürden aus alten Zigarettenschachteln, gebrauchten Präservativen, verlorenen großen Haarnadeln, über Stock und Stein und all das Gerümpel hinweg nach solch einem Winter, und ich nehme diese Ingrid Bergström an der Hand (es ist eine lange, schmale, etwas winterbleiche Hand mit ein paar braunen Pünktchen darauf), und wir laufen zusammen die Straße hinunter
(das ist schon unendlich lange her)
und ich strample vor Glück in meinem Glaskolben
und wir laufen
und ich sehe, daß dieses Mädchen einen kleinen Frosch aus Zinn am Revers ihres hellblauen Mantels trägt, und sie erzählt, daß sie vier Schwestern hat, und da beginnt ein Reden, und es wird über eine lange Zeit hinweg weitergehen und sehr lange glücklich sein, bevor es wieder unglücklich wird, aber das ist eine andere Geschichte
und wir laufen, ohne zu wissen, wohin wir laufen.
Jetzt wird es nur noch zehn Tage dauern, aber das weiß ich nicht, bis ich mit der Erzählung beginnen werde, die »Letzte Tage und Tod des Poeten Brumberg« heißen und mich ein für allemal von der Philosophie abbringen und in etwas anderes hineinführen wird, das noch schwerer ist und mich noch mehr beschädigen wird und durch das ich hindurch muß
laufen die Drottninggatan, die Västra Ågatan entlang, über die Brücke, auf die Östra Ågatan, und als sie mir drei Tage später einen Brief schreibt, beginnt er mit den Worten:
(und ich bin wieder an dem Punkt angelangt, wo ich mich nicht mehr an der Sentimentalität stoße, weil ich begonnen habe, wieder auf den Wert der Worte zu vertrauen)
»Schloß im Morgenlicht«
(Am 31. März 1958 singt Johanna Becker im Pariser Konservatorium unter der Leitung von Igor Markevitch Mozarts Krönungsmesse. Mit strahlender Klarheit steigen die hohen Sopranstimmen in dem einleitenden Chorsatz auf, und sie ist vollkommen glücklich und findet, daß der schwere Chorsatz »sich wie von selbst singt«.
Solange sie singt, wird sie vollständig glücklich bleiben. Und ich weiß nicht, daß es sie gibt.)
Versuch der Rekonstruktion und Analyse
eines mittelalterlichen Bestiariums
Fünfziger Jahre. Man hatte die Begrenzungen des Daseins kennengelernt. Man hatte gelernt, daß es voller Grenzen war.
Man hatte auch allerhand neue Möglichkeiten kennengelernt, die sich dem Fleißigen, dem Tüchtigen, dem Realisten auftaten.
Der große Konjunkturaufschwung des Koreakrieges wollte gar nicht mehr abflauen, die Zuwachsraten der schwedischen Industrie stiegen von Jahr zu Jahr; nun erschienen ausländische Arbeitskräfte und neue Tochtergesellschaften in neuen Ländern.
Paris wurde populär, obwohl anscheinend niemand etwas unternehmen konnte, um die Torturen in Algerien zu verhindern. Weinflaschen kamen auf die Tische der Literaturclubs, nach dem Hering und dem Branntwein der vierziger Jahre nun der Vin Rouge d’Algérie der fünfziger und Sveciakäse, der neuerdings in dicke Scheiben geschnitten wurde. Die Poesie blühte und das Lied, das Couplet. Bastbespannte Flaschen aus Italien schmückten, auch wenn sie schon ausgetrunken waren, ziemlich viele Wohnzimmer, und die Malerei wurde metaphysisch und änderte immer wieder ihre Richtung:
In den ersten Nachkriegsjahren Fischermädchen auf Ibiza, dann Konkretismus, wobei die halbe Kunst darin bestand, eine Fläche gegen eine andere, gelbe, in der rechten oberen Ecke auszubalancieren. Dann erschien die Gedichtsammlung »Strountes« von Gunnar Ekelöf, und die Malerei ging vom Konkretismus über zum Informalismus, es entstanden Graffiti, possenhafte und geistreiche Spielereien: innerhalb von zehn Jahren änderte sich der Charakter fast aller Bilder, sie wurden mehr Gegenstand als Gemälde.
Die Universität erhielt Stipendien, allerdings mehr in den nützlichen Fakultäten als in den unnützen. Mit der Produktivität stieg der Lebensstandard, die Zusammenarbeit zwischen Arbeit und Kapital erlebte eine Glanzperiode, und in aller Stille wurde der Grund zu ein paar bedeutenden Vermögen gelegt.
Man hatte zusammenzuarbeiten gelernt: man wußte praktisch über alle Möglichkeiten Bescheid.
In einem ungewissen Sonnenlicht wuchsen schöne neue Mietshäuser in Rosa und Blau, Pastell und Hellrot aus frühlingshaft weichen Lehmäckern empor. Bulldozer und Bagger dröhnten Tag und Nacht, und die Angestellten der Wohnungsvermittlungen bekamen jetzt ihre Machtstellung: die Bauunternehmer wurden zu Fürsten. Die alten
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