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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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zum Ausdruck brachte.
    Und eine andere Gesellschaft: Mopedfahrer mit Rucksäcken auf dem Rücken, im strömenden Regen unterwegs auf steil ansteigenden Wegen durch den gelichteten Tannenwald. Leere Schulhäuser, verrammelte Kaufläden, alte Leute, auf den Bus wartend, der immer seltener fuhr und bald ganz eingezogen werden sollte.
    Und zutiefst das Gefühl, daß eine unabwendbare, eine unausweichliche Entwicklung diese Menschen irgendwie wertlos gemacht hatte und daß die wesentlichen Entwicklungen in einer anderen Welt stattfanden.
    Diese Menschen hatten nicht resigniert, waren nicht bereit, gleichgültig ihr Schicksal hinzunehmen, aber sie waren gelähmt von dem Gefühl, daß es nirgends in der blanken Mauer einen Riß gab, in dem die Spitze eines Brecheisens Platz gehabt hätte.
    Ich meinte, eine abgedrängte, eine untere Gesellschaft zu sehen, bevölkert mit Menschen, deren Werte auf die gleiche undeutliche, auf die gleiche paralysierende und unfaßbare Weise bedroht waren, wie meine eigenen Werte es zu sein schienen.
    Im Morgennebel tauchten oft Rehböcke längs der Bahnlinie auf, graue Häuser und steinige Wege für den Holztransport, die in große Waldgebiete hineinführten. An den kleinen Bahnhöfen stiegen die Ingenieure zu und redeten in ihrer eigentümlichen Sprache, mit ihrem »Maßnahmen ergreifen«, ihrer »Kapazitätsausnützung«, ihrer eingeengten Paketsprache, die jede Wertung und Deutung einer menschlichen Handlung außerhalb ihres engsten, ihres eingeschränktesten professionellen Zusammenhangs ausschloß.
    Und im Frühjahr, Sommer und Herbst kehrte ich in jenen Jahren gewöhnlich spät in der Abenddämmerung zurück, die Aktenmappe vollgestopft mit neu herausgekommenen Büchern, Angelhaken, Schnapsflaschen und ein paar Pfund Erdbeeren. (Eine eigentümliche Ausformung des internen Kolonialismus in Schweden äußert sich darin, daß Obst und Gemüse im Sommer auf dem Lande nicht zu bekommen sind.)
    Diese scharfen Schnitte, die der Zug bei seiner Fahrt hin und zurück durch das Land machte, lehrten mich mehr über seine Geheimnisse und seine heimliche Unruhe als eine lange Auslandsreise mich hätte lehren können. Und an einem solchen nebligen Morgen meinte ich zu sehen, wie das Vergangene sich klärte: wie eine Fliege auf einem Uhrpendel hin- und herschwingend, meinte ich ein Muster zu erkennen, in dem schließlich auch ich selbst sichtbar wurde.
     
    Die ins Gespräch vertieften Spaziergänger sind weiter vorangekommen auf ihrem Weg, durch die Scharen von Krähen hindurch, die um sie herumflatterten und sie begleiteten. Auf diesem Weg bin ich in einer dunklen Januarnacht im Jahre 1967, bei knirschender Kälte und Neuschnee einem verirrten Engel begegnet, der einen Augenblick lang in ungeheurer Geschwindigkeit über dem Boden stand. Es kam für uns beide überraschend, und wir wandten erschrocken das Gesicht ab, bis die Begegnung vorüber war.
    Und danach war keine Spur im Schnee zu sehen.
     
    Meine Frau geht, besonders wenn so ein ländlicher Weg naß ist vom Regen und sie ihre Gummistiefel trägt, in einer nachdenklichen, etwas vorgebeugten Haltung, die eigentlich besser zu einem pensionierten Professor passen würde.
    Ihre Zerstreutheit ist nur eine scheinbare, blitzschnell kann sie sich bücken und ein ungewöhnliches Insekt neben ihrem Fuß einfangen, ihr Intellekt gleicht dem einer Schwalbe im Flug – immer wenn ich langsam, schwerfällig, mühsam denke, entdecke ich, daß sie mir schon voraus ist und sich bereits am Ziel befindet. Dieser pfeilschnelle Intellekt ist für sie so selbstverständlich, daß es ihr nie einfallen würde, ein Aufhebens davon zu machen.
    Ich selbst gehe lieber ohne Strümpfe in Sandalen und lasse das Wasser fließen, wie es will: in den Schuh hinein und wieder heraus. Das ist eine Gewohnheit, die ich seit meiner Kindheit beibehalten habe.
    Sie kommt mir gar nicht selten wie eine Schwester vor, mir, der ich nie Geschwister gehabt habe. Wir haben keine Heimlichkeiten voreinander, schaffen es aber seltsamerweise irgendwie, die Geheimnisse des anderen in Ruhe zu lassen.
     
    In dieser Gegend und in der Gegend etwas weiter südlich, nach Ramnäs und Seglingsbergs Hüttenwerken zu, habe ich tatsächlich fast jeden Sommer gewohnt, seit ich fünf Jahre alt war. Das ist die einzige wirkliche Kontinuität in meinem Leben.
    Ich erinnere mich an ein paar entsetzliche, ein paar total mißglückte Versuche zu Anfang der sechziger Jahre, den Sommer auf Gotland oder im

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