Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Modeschwankungen mit ihrer nervösen, ahistorischen Unruhe, die Schöntuerei, die Angst und Unruhe in dem, was unsere ideengeschichtliche Entwicklung darstellen sollte, hier, zweihundert Kilometer von Stockholm entfernt, nichts bedeutete. Scheinleben, unruhige Bewegungen an der Oberfläche, Sturmmöwen, die im vormittäglich glitzernden Wasser kleine Fische jagen. Aber tief darunter ein mächtiger Meeresstrom. Schweden war etwas anderes.
Die Spaziergänger sind nun bis zu den Moorwiesen unterhalb des Hügels am Dunshammarhof gelangt, wo die Boote liegen und wo immer ein paar davon den Sommer über liegenbleiben und in der Sonne schrumpfen und leck werden. Der Wasserspiegel hat jetzt einen extremen Tiefstand erreicht, und Baumstämme und Pfähle aus vergangenen Jahrhunderten kommen ans Tageslicht.
Es dauert lange, furchtbar lange, bis man unterscheiden lernt zwischen der eigenen subjektiven Unruhe und den langsamen Bewegungen der Geschichte. (Diese Erzählung tut es nicht, und sowohl ihre Wahrheit als auch ihre Unwahrheit besteht darin, daß sie es nicht tut.)
Das vorige Jahrhundert tauchte auf, aus dem Kohlenrauch und dem Höllenlärm der Fabriken: seine Gedanken wurden wieder sichtbar, Wurzeln kamen ans Tageslicht, die jahrzehntelang niemand gesehen hatte.
Bei meinem Studium der amerikanischen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts stieß ich auf die utopischen Bewegungen dieser Zeit, die unmöglichen Experimente mit einem neuen Leben, die Owens, Fourier und viele andere ein paar glückliche und un-glückliche Dezennien lang betrieben. Ich lernte die eigentümliche Oneida Community kennen, in der ein paar Jahrzehnte lang achthundert Menschen in einer strengen und freundlichen Gemeinschaft lebten. All ihr Eigentum teilten sie, ihre erotische Gemeinschaft war total.
Natürlich war ich mir im klaren über das Illusorische, das Zufällige, das Unzulängliche dieser Experimente, über den oberflächlichen und verworrenen Grund, auf dem sie gestanden haben. (Und tatsächlich ist das auch alles in sich zusammengebrochen.)
Trotz ihrer Verworrenheit, ihrer Isoliertheit haben diese Stimmen aus der Tiefe des vorigen Jahrhunderts eine ungeheure Anziehungskraft.
Sie waren, selbstverständlich, »unmögliche« Erscheinungen, ein unvernünftiger Aufstand gegen die stärkeren Kräfte, die zur gleichen Zeit die zukünftige Welt gestalteten, aber zugleich waren sie ja vollkommen »möglich«. Man sucht sich sein Leben nicht aus. Aber es gibt auch keine naturgegebene Notwendigkeit, die darüber herrscht.
Verzagtheit, Resignation, Kapitulation angesichts der eigenen Angst kamen eigentlich Ausflüchten gleich, und der radikale Pessimismus war letzten Endes kaum mehr wert als irgendeine Phantasterei: ich hätte mich ebensogut dafür entscheiden können, Alchimist zu werden.
Es ist der zwanzigste August 1968, und wir gehen zu den Moorwiesen hinunter, um uns um das Boot zu kümmern, das nach dem letzten Regen voller Wasser ist. Und alles fließt umher, Schöpfgefäße, Ruder, Benzinkanister, Sturmstreichhölzer in ihren wasserdichten Futteralen, die Seile und die Trosse und die Schwimmkugeln, bis schließlich die gelbe Lenzpumpe auftaucht und ich den grünen Plastikschlauch daran befestige, der immerzu abgehen will, und beginne, das klare, ein wenig nach Humus duftende, unwahrscheinlich weiche Wasser über die Reling zu pumpen, mit hochgerollten Hosenbeinen auf dem schlüpfrigen Vorratskasten stehend. Und wie ich da stehe, sage ich zu Madeleine, meiner Frau:
– Glaubst du, daß wir am Ende sind oder am Anfang?
Und sie antwortet:
– Am Anfang. An irgendeinem Anfang. In irgendeiner Zeit.
Es ist ein Tag vor der sowjetischen Okkupation der Tschechoslowakei. Das wissen wir selbstverständlich nicht.
Über die Triumphe und Niederlagen der Phantasie
Es gibt Winterabende (in Stockholm), die etwas so Leeres und Feindseliges an sich haben, daß nicht einmal die Bücher mehr sprechen. Ich kauere mich in der kleinen tabakbraunen Küche in der Wohnung an der Hagagatan mit einem Butterbrot und einer Tasse Tee an der Heizung zusammen. In dem kleinen häßlichen Radio aus gelbem Plastik knistert es von fremden, weit entfernten Stimmen. Die Nachbarn in der Wohnung darüber haben wieder mit ihrer seltsamen Zeremonie von Knallen, Krachen und Fluchen begonnen, dazwischen plötzlich eine unheilschwangere Stille, dann erneutes Knallen. Die ersten zehn Male habe ich das für ein Familiendrama mit tödlichem Ausgang gehalten, bis
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