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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Traum brachte ich sie mit Fridtjof Nansens Tante in Verbindung. Warum? (Delacroix: »Die Freiheit auf den Barrikaden«. Sie ist die Frau mit der Fahne.)
    Ich schickte ihr einen Brief und beschrieb das alles und schloß mit der Frage, was sie denn, so zielstrebig, in meinen Träumen zu suchen hätte.
    Irgendwo war die Lügenmauer gesprungen, der Riß war durchlässig. Würde er größer werden?
    Mit jedem eiskalten Tag wurde mir immer deutlicher bewußt, daß meine Trauerarbeit, meine Untersuchungen keine private Angelegenheit mehr waren. Das erschreckte mich: waren wir alle, ich sage alle , in diesen Monaten daran beteiligt, ohne es selbst zu wissen?
    Als die Zeiten sich wendeten und diese Gesellschaft sich schließlich zu fragen begann, welche Mächte sie okkupiert hätten, da stellte sich diese Frage auch mir. Keine Laune, keine seltsamen hormonellen Veränderungen, nichts als die blanke Notwendigkeit zwang mich, nach den Quellen der Angst zu suchen.
    Es gab keine andere Möglichkeit mehr, als sich die Frage zu stellen, wer man sei.
    Ich stellte sie mir und entdeckte, in welch einem erschreckenden Ausmaß die Antwort von anderen bestimmt war.
    Es fiel noch mehr Schnee.
    An den Tagen, die ich zu Hause verbrachte, fiel es mir schwer zu arbeiten, zu lesen, es fiel mir sogar schwer, Notizen für einen Artikel zu machen. Es war ein Zustand, in dem Sprache weh tat.
    Wenn die Dunkelheit anbrach, lag ich gewöhnlich auf dem roten Sofa in meinem Arbeitszimmer, ich hörte Berlioz zu, ich wußte nicht mehr, wozu er gut sei, außer daß er mich an etwas erinnerte, was ich vor langer Zeit einmal gewollt haben mußte, und mir zu Bewußtsein brachte, daß ich aus einem langen und hartnäckigen Schlaf aufgewacht war, ob ich wollte oder nicht. Da ich nicht wußte, wozu diese Musik gut sei, schrieb ich einen Artikel über sie.
    Ich konnte, im Halbdunkel, stundenlang daliegen, und unentwegt quälten mich Erinnerungen ganz bestimmter Art:
    (ich sehe mich selbst, irgendwann in den Jahren 1961-63, ein frisch ernanntes Genie, mit vielen Hms, nasal und zerstreut einen Vortrag auf dem Katheder irgendeiner Volkshochschule halten, Gott weiß wo, über Poesie und Semantik, oder irgend etwas anderes, was ein einfallsreicher Veranstalter per Telefon mit mir abgesprochen hat, und je länger ich rede, desto deutlicher wird mir bewußt, wie eine dünne Schicht von Feindseligkeit mich von meinen Zuhörern trennt und sie von mir.
    Dieser hm-machende, zerstreute, arrogante Typ bin nicht ich, und sie sind auch nicht sie selbst, und die Sprache, die ich spreche, ist weder die meine noch die ihre, und draußen fällt ein herbstlicher Regen.
    Es gibt allzu viele, die unsere Gedanken für etwas anderes benutzen wollen. Das ist eine der Voraussetzungen dafür, daß man mich zum Reden aufgefordert hat: daß ein gewisses Maß an Unverständnis zwischen meinen Zuhörern und mir herrscht. Das ist es, wozu ich benutzt werde.
    Nur ein Millimeter trennt uns davon, die Wahrheit zu erkennen.)
     
    Februar: nach einem Besuch im Dramaten, dem Stockholmer Stadttheater, wo ich irgendein Stück rezensiert habe, an das ich mich nicht mehr erinnere, und nachdem ich meine Rezension an die Zeitung durchtelefoniert habe (ich schreibe sie gewöhnlich in irgendeinem Café in der Nähe des Theaters und gebe sie so schnell wie möglich durch: ich liebe Theaterkritiken, weil sie mich zwingen, von meinen Erlebnissen zu berichten, lange bevor ich mit ihnen fertig bin, und ich daher über sie berichten kann, ohne daß es weh tut. Denken tut immer weh, und bei mir geht es immer mit einem gewissen trockenen Schmerz in der Zwerchfellgegend einher, und darum stöhne ich oft so laut in Zügen und Flugzeugen, daß freundliche ältere Damen kommen und mir schmerzstillende Mittel anbieten, die ich dann annehmen muß, weil ich ihnen niemals die Wahrheit erklären könnte, ohne mich lächerlich zu machen. Aber Theaterkritik tut nicht weh, und theoretisch gesehen könnte ich sie in uneingeschränkten Mengen produzieren: es sind ja nur Menschen, die man beschreibt, und Menschen sollte man uneingeschränkt beschreiben können), gehe ich nachdenklich heim in die Hagagatan.
    Jetzt bin ich wieder nicht ehrlich. Es stimmt zwar, daß ich auf dem Heimweg in die Hagagatan war, aber das war natürlich nicht das eigentlich interessante. Das waren vielmehr meine vagen Versuche, den fragmentarischen, undeutlichen Eindruck von einem schwer zu definierenden Mädchen zu formulieren, das durch irgendeinen

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