Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Zufall auf dem Sitz neben mir gelandet war und deren tiefes Lachen in keiner Weise mit ihrem Aussehen übereinstimmte. Ich hatte nicht ein einziges Wort mit ihr gewechselt (diese idiotischen Regisseure, die nicht wissen, was sie tun, wenn sie im Theater alle Pausen streichen), gleichwohl hatte sie aber meinen Eindruck von diesem Abend entscheidend bestimmt, da wir die ganze Zeit über vorsichtig unsere Schultern aneinandergedrückt hatten, in dem verzweifelten Versuch zu ergründen, welche rätselhaften Barrieren uns trennten.
Auf dem Heimweg überkamen mich Verzweiflung und Depressionen angesichts all dieses Lebens, das vorsichtig an uns vorbeistreift, und eine heftige, fast biologische Neugier auf all diese Geheimnisse, die sich in den anderen abgekapselten Zellen in einer Gesellschaft abspielen müssen, die dadurch funktioniert, daß die Menschen fast lautlos aneinander vorübergehen.
(Nie kann ich meine Kollegen nachmittags mit ihren Aktenmappen und Taschen vom Verlag nach Hause gehen sehen, ohne insgeheim darüber betrübt zu sein, daß ich nicht die Fortsetzung ihres Tages sehen darf, und das, obwohl ich im Grunde genommen weiß, daß der unsichtbare Teil ihres Lebens kaum fesselnder ist als der sichtbare Teil.)
Ich ging also heim in Richtung Hagagatan, da es ein Donnerstagabend war, und um mich herum entfaltete die Stadt ihr geheimnisvolles, abgekapseltes Kasernendasein. Es fiel Schnee.
Als ich in die Hagagatan einbog und mich dem Haus Nummer 16 näherte, in dem die alte Wohnung liegt, hörte ich durch den dämpfenden Schnee lautes Rufen, Grölen und Schreien.
Vor der Tür standen zwei Männer, betrunkene finnische Matrosen, wie mir schien, und zerrten energisch an der Klinke. Hinter der Tür, mit einem auffallend weißen Gesicht, vielleicht war es auch der Zorn, der es so weiß machte, stand ein kleines, zorniges Frauenzimmer: sie muß etwa in meinem Alter gewesen sein. Sie entwickelte, trotz ihrer Kleinheit, eine furchtbare Kraft und schaffte es tatsächlich, die Tür trotz der vereinten Anstrengungen der Matrosen (oder was sie nun waren) zuzuhalten, bis nur noch Zentimeter fehlten, um sie ins Schloß schnappen zu lassen. Und das wollte sie offenbar.
Sie trug einen schwarzen, adretten Wintermantel, an einem Arm hing ein großes Einkaufsnetz (wer kauft schon nachts um halb zwölf Lebensmittel ein?), die Lippen waren mit irgendeinem unbeschreiblichen lilafarbenen Lippenstift bemalt, der die kosmetische Entsprechung zu den neobrutalen Leichtbetonfassaden in der Architektur darstellt. Das Mädchen, die Frau oder die Dame hatte insgesamt einen vagen Zug von Hysterie, von aufgestacheltem sozialen Ehrgeiz an sich, ich wußte schon im voraus, daß, wenn sie zu reden anfinge, sie in einem affektierten Falsett reden würde.
Auf der anderen Seite der Glasscheibe standen die finnischen Matrosen, der eine klein, mitten im Winter ohne Kopfbedeckung, in einer abgetragenen Lederjacke, mit einem blonden Haarschopf, der schon lang keinen Kamm mehr gesehen hatte, und großen, seichten, treuherzigen blauen Augen, die jetzt irgendwie ganz verzweifelt durch die Türscheibe starrten. Der andere war größer, er trug eine Sportmütze und einen Sommermantel mit verschlissenen Ärmeln. Sein Gesicht war narbig, das Augenlid ein wenig geschwollen.
Mein Eintreffen löste allgemeine Verwirrung aus. Beide Seiten ließen die Tür los, und ich blieb auf der Schwelle stehen, genau zwischen den Matrosen und der Dame. Alle nahmen es für gegeben, daß ich in dem Haus daheim sei.
Mir wurde sofort klar, daß ich in eine Falle geraten war.
Man würde mich zum Handeln zwingen, ich würde Partei ergreifen müssen. Ich wußte schon vom ersten Augenblick an, von welcher Seite die Forderungen kommen würden, und ich wußte, daß der anderen Seite meine Sympathie gehörte. Ich wußte, daß ich unwiderruflich dazu verurteilt war, auf der falschen Seite zu kämpfen.
Vermutlich würde man mich ziemlich übel zurichten. Mitten in der aufsteigenden Angst spürte ich einen unbeschreiblichen Überdruß. Ich zog die Möglichkeit in Betracht, ganz ruhig meinen Weg ins Haus fortzusetzen, die Treppen hinauf, und so zu tun, als sei nichts geschehen.
– Dem Himmel sei Dank, daß Sie gekommen sind, sagte die Dame. Sie sprach tatsächlich mit affektierter Falsettstimme und mit häßlichen verschwommenen Vokalen, genau wie ich es erwartet hatte.
– Kann ich irgendwie behilflich sein, sagte ich.
– Diese beiden Strolche versuchen, in das Haus
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