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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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warmem Vibrato aus meterhohen Lautsprechern vom Aufruhr singen, in dem blauen Rauch orientalischer Harze versinken.
     
    Ich weiß trotz allem nicht, ob ich zum freudianischen Proletariat gehöre.
     
    Die Luftbremsen versetzten die Maschine in heftige Schwingung. Gleichgültig dachte ich an die kurze Landebahn unter uns, die zwischen dichten Wohnvierteln eingezwängte alte Exerzierheide. In den Tagen der Luftbrücke, kurz vor Beginn der seltsamen fünfziger Jahre, als alle drei Minuten Kohl und Kartoffeln mit dem Flugzeug eingeflogen wurden, muß es auch Schneestürme gegeben haben.
     
    (Meine Frau auf dem Stockholmer Flughafen Arlanda, in Wollschals eingehüllt: wenn du einen Ort findest, wo es wärmer ist als fünfzehn Grad, mußt du mir telegraphieren. Bis dahin bleibe ich hier und kümmere mich um meine Prüfungen. Sie hat seit den fünfziger Jahren unentwegt Prüfungen abgelegt: ist es nicht arabische Umgangssprache, so ist es numerische Analyse.)
     
    Nun, lieber Freund, die Zinngrubenarbeiter auf der Hochebene von Bolivien, was machen die, wenn sie von Neurosen heimgesucht werden?
     
    Das freudianische Proletariat, es flieht... und bestätigt damit seine Stellung als Proletariat.
    Und das sogenannte »Innenleben«, zeichnet es sich nicht gerade dadurch aus, daß es uns nicht zwischen Illusion und Wirklichkeit unterscheiden läßt?
    Die Wirklichkeit entsteht erst dann, wenn man mit dem Kopf gegen die Wand rennt, erst dann, wenn man auf Widerspruch trifft. »Die Hölle«, sagt der eifrige Sartre, »das sind die anderen.« Die anderen, das ist die Wirklichkeit, sage ich.
     
    Und jetzt tauchten endlich die Lichter auf, erschreckend nah unter uns, die Luftbremsen versetzten die ganze Maschine in eine starke Vibration. Und mitten in dem dichten Schneetreiben landeten wir, unter vollem Einsatz der Schubumkehr, in Berlin.
    Ich ließ meine Taschen in der Aufbewahrung und sprang in einen Bus. Die Straßen lagen fast verödet da, dann und wann kämpfte sich ein Auto mit flackernden Scheinwerfern durch das dichte Schneegestöber. Jetzt würde es eine Weile dauern, bis wieder Flugzeuge landen könnten. Die Kirchenglocken tönten von allen Seiten schwach durch den Schnee: es mußte wohl Samstag abend sein. Durch die langen, verlassenen Straßen fegte kreuz und quer der Schnee: man konnte nicht mehr ausmachen, woher er kam.
    Ich stieg am Bahnhof Zoo in die Buslinie 25 um und fuhr durch die dichter werdende Dunkelheit nach Friedenau hinaus.
    E.’s Haus lag dunkel an seiner Vorstadtstraße, jenseits der Gartenpforte war der Schnee unberührt, die kleine Klingel an der Haustür war festgefroren. Es konnte Monate her sein, seit jemand die Tür geöffnet hatte. Im Schein der spärlichen, gelben Straßenlaternen, die unruhig im Wind schwankten, machte die ganze Straße einen seltsam menschenleeren, furchteinflößenden Eindruck. Was sollte ich hier?
    Es war nicht mehr Oktober, es war Mitte Februar.
    E. mochte sich auf irgendeinem anderen Kontinent befinden.
    Und plötzlich erkannte ich, daß ich diesen sonderbaren Abstecher nach Berlin nur aus einem einzigen Grund gemacht haben konnte, um nämlich eine Art Wiederholung herbeizuführen, eine »gjentagelse«, wie der geplagte Kierkegaard sagt, um noch einmal, wie bei meinem letzten Besuch, diese plötzliche Erleichterung zu spüren, in der meine ganze Trauerarbeit, meine Unruhe, alles, was seither geschehen war, seinen Ursprung hatte.
    Irgendwo, tief drinnen im Labyrinth des Winters, mußte ich falsch gewählt haben, an einer unmerklichen Stelle hatte ich irgendeinen Gedankenfehler gemacht, der mich ganz einfach zum Ausgangspunkt zurückgeführt hatte.
    Es gab für mich nicht den geringsten Grund, hier zu sein. Der Wind pfiff durch die Straßen, die gelben Laternen schaukelten im Wind. Mitten in den Schneesturm mischte sich der diskrete Geruch nach Steinkohlenrauch, der immerzu über Berlin liegt.
    Ich fühlte mich nicht verzweifelt. Ich fühlte mich enttäuscht.
    Dieser sonderbare Zirkel würde beliebig lange weitergehen können.
     
    An der Friedrich-Wilhelmskirche unten gelang es mir, ein freies Taxi zu finden. Es schlitterte lebensgefährlich im Neuschnee auf der Stadtautobahn nach Steglitz, der Chauffeur schien fast beleidigt, daß jemand unter diesen Umständen überhaupt seine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Am Schöneberger Rathaus gab er ganz einfach auf. Ich bezahlte ihn ohne besondere Freigebigkeit und suchte mir vorgebeugt meinen Weg durch die kleinen Straßen

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