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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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westlich vom Steglitzer Volkspark. Der kleine Kanal lag gefroren da, Lastkähne steckten im Eis fest, im Park flatterten unruhig ein paar verfrorene Enten, und man hörte die klagenden Laute irgendeines größeren Vogels, sie klangen wie ängstliche Hilferufe.
    Der Schneefall ließ plötzlich ein wenig nach, der Wind flaute ab, der Mond schien durch die schneebedeckten Baumwipfel im Park.
    Ich fand das Haus einzig mit Hilfe der Erinnerung. Zwei mächtige Birken standen unten am Gartentor. Sie bewegten sich unruhig in dem immer schwächer werdenden Wind. Es mußte früher einmal ein Patrizierhaus gewesen sein. Zwischen der Außenpforte und der Eingangstür war eine Zeitung eingeklemmt; ich trat ein. Der intensive Geruch nach Bohnerwachs stach mir in die Nase, bizarre Stahlstiche aus der wilhelminischen Ära schmückten das Treppenhaus. Ihre Tür war angelehnt.
    Ich trat ein und zog die Tür hinter mir ins Schloß.
    Durch die halboffene Tür zwischen dem Vorplatz und dem Arbeitszimmer sah ich sie in einem tiefen Sessel sitzen. Sie las anscheinend, beim Licht einer orangefarbenen Lampe. Das rote, schwere Haar fiel kupferglänzend zu beiden Seiten herunter und ließ ihr häßliches, schweres, wunderbares Profil nur ahnen. Offenbar war sie allein, rechnete aber so fest damit, daß jemand kommen würde, daß sie nicht einmal den Kopf hob, als sie meine Schritte im Vorplatz hörte. Ich legte den Mantel ab, von dem der Schnee in schweren Fladen auf den Bastteppich des Vorplatzes fiel, zog meine nassen Schuhe aus, die sonst unvermeidlich dem Teppich im Arbeitszimmer geschadet hätten, und ließ mich zu ihren Füßen nieder.
    Sie schrak zusammen, warf das Buch zur Seite und sah mich streng mit ihren großen dunkelblauen Augen an.
    Ihre Socken, aus gelbem Frottee, dufteten nach Steinkohlenrauch, Küchendunst, Bohnerwachs. Die kurze sommersprossige Hand strich mir übers Haar. Sie hatte braune Kordsamthosen an (sehr abgetragen) und einen orangefarbenen Pullover.
    Ihr Haar hatte den gleichen Steinkohlenduft wie ihre Füße.
    Nachdenklich ließ ich meine Finger über ihren Kopf wandern: ich ahnte das gewaltige Gehirn unter dieser mächtigen Wölbung.
    Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Ich hörte einen Spatz, ja, es muß ein Spatz gewesen sein, in einer der Birken vor dem Haus zwitschern.
    Ruhig, ergeben fast, schob sie mich zur Seite und sagte mit ungewöhnlich tiefer, deutlicher Altstimme:
    – Es wäre sicher schwer, deine Mutter zu sein.
     
    Sie machte sich in einer Ecke des Zimmers mit irgend etwas zu schaffen, verschwand, kam zurück.
    Durch das Zimmer tönten, viel zu laut für Nachbarn, für die Nacht, für die Zeit, für die Gelegenheit, und doch ganz richtig, die jubelnden, glanzvollen Soprane der Einleitungschöre zu Mozarts Krönungsmesse.
    Gegen sechs Uhr morgens hörte ich den Spatz im Baum noch einmal singen. Er mußte die ganze Nacht dort gesessen haben.

Ein Frühstück in Preußen
     
    Du, der du Tausende von Kilometern von hier hättest sein sollen, du, der du ein verschlossenes Haus hättest öffnen sollen, du, der du zu dir selbst hättest zurückkehren sollen, um endgültig festzustellen, an welchem Punkt du in die Irre gegangen bist, du sitzt nun, während immer noch Schneesturm herrscht, schon den dritten Tag im tiefsten Preußen und frühstückst.
    Im Osten, Norden, Westen und Süden die verschneiten Straßen der Deutschen Demokratischen Republik, gestutzte Weidenalleen, Traktorenstationen, Landwirtschaftskollektive. Der Wind pfeift durch mörtelduftende Baustellen am Alexanderplatz, die Volkspolizisten frösteln in ihren Pelzen und fingern mit Wollhandschuhen an ihren runden russischen Maschinenpistolenmagazinen, die Schneeräumer klappern auf den Dächern, noch ungeübt in ihrer Tätigkeit. Im Westen gehen die Studenten mit ihren langen Schals und ihren kleinen Goldrandbrillen zu ihren Vorlesungen an der Freien Universität, die Professoren streiken, die Dozenten verfassen Manifeste, klein wie schwarze Punkte spazieren verwegene Herren über das schon tragfähige Eis der Westberliner Binnenseen, und auf der kleinen Wiese am Wannsee laufen die Hasen aufgeschreckt über den verharschten Schnee!
    Die Wahrheit ist weit von hier.
    In den großen hellen Räumen, wo die gelben Gardinen das Licht filtern, wo es mild nach Bohnerwachs duftet und schwere staubige Bücher in den Regalen mit Tausenden von kleinen Zetteln zwischen den Seiten den schnitzelbestreuten Weg zeigen, den man gehen muß, um so

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