Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
etwas wie einer Wahrheit näherzukommen, ist es so still wie in einer Kirche. Johanna Becker wendet den fetten preußischen Schinken, schlägt noch ein Ei in die Pfanne und serviert das alles auf grobem schwarzen Brot. Noch herrscht tiefer Winter. Das schwere rote Haar hat sie unter einem Seidentuch verborgen, wegen des Bratendunstes, ihre resoluten, sommersprossigen, klugen Hände zünden den kleinen Rechaud an, auf dem die Teekanne stehen soll.
Sie sieht ganz einfach schrecklich aus. Sie lächelt eins ihrer seltenen Lächeln. Über dem Küchentisch hängt ein vergilbtes Papier mit der kleinen Devise:
ES WIRD MIT SPRINGER BÖSE ENDEN
und daneben zwei kokette, gehäkelte Biedermeiertopflappen an einem gelben Messingknauf. Es summt und rauscht in der Gasflamme des Durchlauferhitzers. Kirchenuhren schlagen.
– Das ist eine friedliche Stadt.
– Ja, sehr friedlich. Und gestern hat der Senat ein Gesetz verabschiedet, das den Gebrauch von Handgranaten und Schnellfeuerwaffen gegen Demonstranten gestattet.
– Ich meine: hier ist es friedlich.
– Das ist selten.
– In Stockholm benutzen die Damen keinen Büstenhalter mehr. Er ist seit 1968 verschwunden.
– Ich will meinen gern wegwerfen.
– Die Zeitschriften gehen ein, die Rundfunkredakteure werden gefeuert, wenn sie sich nicht an geheime vervielfältigte Weisungen halten, die Demonstranten wird man mit Handgranaten empfangen. In Stockholm darf man keine Handgranaten werfen, weil es vielleicht nie nötig sein wird, die Kritiker verkünden mit viel Geschrei, daß wir wieder zur Literatur zurückkehren müßten, die Tschechoslowakei wurde am 21. August 1968 okkupiert, es gibt kein Glück, das länger währen könnte als drei Tage, es war verantwortungslos von mir, Kinder in die Welt zu setzen, da ich nicht weiß, ob sie bis zum Erwachsenenalter in dieser Welt am Leben bleiben werden. Ich fürchte mich, ich bin voller Verachtung, ich glaube nicht an deine Theorien vom Überbau, ich bin nicht sicher, ob deine Lehre vom Mehrwert mehr ist als nur die halbe Wahrheit, ich habe nicht teil am Krieg in Vietnam. Deine Freunde finde ich dogmatisch, humorlos, in sektiererische Auseinandersetzungen verstrickt.
Vielleicht schon in zehn Jahren wirst nicht nur du, werde auch ich mich so unmöglich, so unwirklich ausnehmen wie die Menschen des Jahres 1848, als alles möglich war, sich im Jahre 1860 ausnehmen. Die große Chance ist nun schon verpaßt. Die große Freiheitsbewegung ist 1968 gestorben, und du und deine Freunde wissen das. Und trotzdem tut ihr so, als ginge es euch nichts an.
Und ich weiß nicht, wie ihr es überhaupt noch schafft, ich weiß nicht, woher ihr euren Mut nehmt, ich weiß nicht einmal, ob ihr so ganz recht habt, und dennoch weiß ich, daß bei euch die Wahrheit ist, wenn auch eine Wahrheit, die es noch nicht gibt. Ich werde dich lieben bis in meinen Tod. Du bist die Freiheit auf der Barrikade, du bist die einzige Form der Hoffnung, die es gibt, du bist der einzige Mensch, der mich streng wie ein Richter ansehen kann und mich dennoch Mut fassen läßt.
(Und ich vergrub noch einmal den Kopf in ihrem Schoß, der nach Kordsamt und Bratendunst duftete. Sie strich mir leicht mit der Hand über den Nacken, und ich spürte, daß mich nichts auf der Welt mehr würde erschrecken können.)
– Du hast ein sehr schönes Profil, weißt du das? Du erinnerst mich oft an eine Stelle aus Thomas Manns »Herr und Hund«. Weißt du, an welche?
– Nein.
– Es ist die Stelle, wo Bauschan, der Hund also, einen Hasen aufspürt und ihn herumjagt, bis etwas Phantastisches geschieht: der Hase kommt und legt den Kopf in Thomas Manns Schoß, und er sagt, jetzt war der Hase Hund, und ich war sein Herr.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit meines Lebens ich damit zugebracht habe zu verachten.
– Nein, du hast große Angst.
– Es ist nicht Angst. Es ist wirklich Verachtung. Ich verachte schlappe Schöntuerei, vorsichtige Zeitungsartikel, billige Erfolge, schlechte Logik, unklare Sprache, trübe Sentimentalität, ich verachte die öffentliche Lüge, ich verachte den Anti-Intellektualismus, den Haß auf alles, was nach Denken aussieht, und ich verachte alles in mir, was daran teilhat.
– Dann hast du also doch Angst.
– Warum denn?
– Weil du dich mit alldem abgefunden hast.
– Du findest meine Angst nicht nur lächerlich; wie ich sehe, findest du auch, daß es eine altmodische Angst ist. Was kümmert dich meine altmodische antiquierte liberale Selbstverwirklichung? Was
Weitere Kostenlose Bücher