Ritualmord
Polizeifunk verschlüsselt war, hörte sie sich stattdessen das statische Rauschen an. So abgedreht war sie inzwischen.
Nach ein paar Minuten erschien Tig wieder in der Diele, schaltete das Licht ein und nahm die Türkette ab.
»Mum schläft nicht. Es ist immer schlimmer, wenn sie nicht schläft.« Er trat zurück, um sie hereinzulassen, und wedelte ein bisschen betrübt mit der Hand nach hinten in den Flur. Der schmale Teppich war schmutzig und voller Flecken. »Geht immer darum, ob ich jetzt wieder fixe, wenn sie nicht Schlafengehen will.«
Sie gingen in die Küche mit ihren Bergen von Wäsche und dem billigen Resopaltisch mit der fleckigen Plastikmatte, auf der Salz, Pfeffer und eine Ketchupflasche standen. Tig setzte den Kessel auf, drehte die Gasbrenner am Herd auf, damit es ein bisschen wärmer wurde, nahm einen Stapel Kleider von einem Stuhl und winkte ihr, sich zu setzen. Schweigend nahm sie am Tisch Platz; der Geruch von Vernachlässigung, Fäulnis und Gas stieg ihr in die Nase. Der kleine Beutel mit den Pilzen steckte immer noch in der Tasche ihrer Fleecejacke; hart und klumpig an ihrer Brust, erinnerte er sie an Mum und die Hundsveilchen. Tig machte ihr eine Tasse Tee mit Milch und stöberte irgendwo eine Packung Erdnüsse auf. Er riss sie mit den Zähnen auf, schüttete die Nüsse in eine Schale und schob sie ihr hinüber.
»Was ist denn? Der Job? Ist was Schreckliches passiert? Komisch, wenn du herkommst, riechst du nicht nach Leichen.«
»Mein Leben besteht ja nicht nur daraus, dass ich Leichen herumschiebe, weißt du.«
»Aber zum größten Teil.«
Na ja, Tig, hätte sie fast gesagt, in letzter Zeit brauche ich meinen Schutzanzug auch dann, wenn ich in dieser Wohnung sitze. Aber sie behielt es für sich. Sie zog sich die Jacke fester um die Schultern. Es war wirklich kalt hier. Zugig. »Du hast recht. Ich hatte jetzt zwei Leichentage. Aber nicht eklig – na ja, irgendwie schon eklig, aber dann auch wieder nicht.«
Er nahm ein paar Nüsse und sortierte sie auf der flachen Hand. »Wie kann was irgendwie eklig< sein?«
»Es waren zwei Hände.«
Er blickte auf. »Zwei Hände?«
»Unter einem Restaurant im Hafen.«
»Ohne den Körper?«
»Ohne den Körper.«
»In Bristol im Hafen?«
»Sag ich doch.«
»Ja, Scheiße, wie sind die denn da hingekommen?«
»Keine Ahnung.«
»Weiß man, wem sie gehören?«
»Nein.«
»Welches Restaurant?«
»Unten, gegenüber vom Redcliffe Quay.« Sie stocherte in den Erdnüssen und fragte sich, ob es ungefährlich war, in dieser Wohnung etwas zu essen. »Das Moat.«
»Das Moat?« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich kenne das Scheiß-Moat. Ich kenne den Typen, der es führt. Ein Afrikaner – hat mir einen dicken Batzen von meinem Startkapital gegeben.«
»Tja«, sagte sie und warf sich zwei Erdnüsse in den Mund, »das ist Grund genug für mich, nicht mit dir darüber zu reden, oder?«
Er seufzte. »Wollte nur zeigen, dass es mich interessiert.«
Sie nahm noch eine Erdnuss aus der Schale und brach sie auseinander. Tigs Hand lag auf dem Tisch – kurze Fingernägel, ein verblichenes Knasttattoo auf den Knöcheln: Love und Hate.
Nicht Mum und Dad. »Tig?«, sagte sie nach kurzem Schweigen. »Weißt du noch, wie du auf Drogen warst?«
»Das werde ich nicht vergessen, oder?«
»Hattest du je das Gefühl…«, sie strich sich mit beiden Händen über das Gesicht und suchte nach den richtigen Worten, »…hattest du je das Gefühl, dass sich ein ganzes – ein ganzes Universum auftut… hier drin? Im Kopf?«
Er lachte kurz. »Ein ganzes Universum? O ja. So fühlt es sich am Anfang an – als gäbe es da drin ganz neue Welten, die du anders nie gefunden hättest. Aber später, wenn es kippt – und es kippt immer –, ist das Universum plötzlich das, was sich auftut, wenn du nichts nimmst. Bloß diesmal ist es ein Universum der Schmerzen. Und daraus entkommst du nur durch neuen Stoff.«
»Aber zuerst, wenn du in diesem Universum bist – hast du da je gedacht, du könntest… ich weiß nicht… du könntest vielleicht Verbindung aufnehmen? Verbindung zu Leuten, die tot sind?«
»Oh, bitte, Flea. Ich sehe die Toten – ist es das? Es gibt keinen Hippie, keine Weiße Hexe, keinen Guru, der nicht mit Drogen rumspielt und sich einredet, er kriegt davon eine Art Superblick, Hellsichtigkeit oder wie sie den Scheiß sonst nennen wollen. Das hab ich alles schon gehört, rauf und runter. Sie glauben, sie reden mit den Toten, weil sie sich
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