Ronja Räubertochter
der Mattisburg geschehen waren. Schaudernd zog sie ihren Wolfspelz dichter um sich und wanderte weiter durch den unterirdischen Gang, der sich an den Verliesen entlang unter der ganzen Burg erstreckte. Hier war sie schon einmal mit Glatzen-Per gewesen. Er hatte ihr gezeigt was der Blitz in jener Nacht ihrer Geburt angerichtet hatte. Nicht genug damit daß er den Höllenschlund aufgerissen hatte, tief unten hatte er sogar den Fels gesprengt und deshalb war der unterirdische Gang in der Mitte eingestürzt und mit Felsbrocken und Steinsplittern versperrt
»Hier ist Schluß, hier kommt man nicht weiter«, sagte Ronja, genau wie GlatzenPer es gesagt hatte, als sie mit ihm hiergewesen war.
Doch dann begann sie zu überlegen. Hinter dem Geröll führte der Gang ja weiter, das wußte sie, das hatte Glatzen-Per auch gesagt Schon immer hatte es sie geärgert daß man dort nicht weiterkam, und jetzt ärgerte es sie mehr denn je.
Denn wer weiß, irgendwo hinter all dem Geröll, irgendwo dort war Birk vielleicht gerade jetzt?
Sie starrte auf den Steinhaufen und dachte nach. Schließlich hatte sie fertiggedacht.
In der nächsten Zeit sah man Ronja nicht allzuoft in der Steinhalle. Morgen für Morgen verschwand sie, keiner wußte, wohin, aber weder Mattis noch Lovis fragten danach, wo sie steckte. Sie schaufelte wohl Schnee wie alle andern, und im übrigen waren sie es gewohnt, daß Ronja kam und ging, wie es ihr gefiel.
Aber Ronja schaufelte keinen Schnee. Sie schaufelte Geröll und schleppte es fort daß ihr Arme und Rücken schmerzten.
Und wenn sie abends erschöpft in ihr Bett sank, wußte sie eins mit Bestimmtheit: Nie wieder in ihrem Leben würde sie einen einzigen Stein schleppen, egal ob groß oder klein. Doch kaum war der nächste Morgen gekommen, war sie wieder unter der Erde. Und wieder begann sie wie eine Besessene Kübel auf Kübel mit Geröll zu füllen. Sie haßte dieses Geröll, haßte alle diese aufgehäuften Steine so glühend, daß sie allein dadurch hätten schmelzen müssen. Aber das taten sie nicht. Sie lagen, wo sie lagen, und sie mußte sie eigenhändig, Kübel für Kübel, wegschleppen und in das nächstliegende Verlies schütten.
Aber es kam der Tag, an dem das Verlies voll war, und der Trümmerhaufen so weit zusammengesunken, daß man sich vielleicht wenn auch mit Mühe, zur andern Seite hindurchzwängen konnte. Falls man es wagte! Ronja wußte, daß sie jetzt gut nachdenken mußte. Konnte sie sich geradewegs in die Borkafeste wagen? Und was würde ihr dort geschehen? Sie wußte es nicht. Aber daß sie auf einem gefährlichen Weg war, wußte sie. Und doch war kein Weg so gefährlich, daß sie ihn nicht gegangen wäre, um zu Birk zu gelangen. Sie sehnte sich nach ihm. Wie es dahin hatte kommen können, das begriff sie nicht! Sie hatte ihn doch verabscheut und mitsamt seinen Borkaräubern zum Donnerdrummel gewünscht.
Und hier stand sie nun, und das einzige, was sie wollte, war, endlich hinter den Geröllhaufen zu kommen und zu sehen, ob sie Birk finden konnte.
Dahörte sie etwas. Auf der anderen Seite kam jemand, ja, es waren Schritte. Wer sonst konnte es sein außer einem Borkaräuber? Sie hielt den Atem an und wagte nicht sich zu rühren, stand mucksstill da und lauschte und wünschte sich fort, bevor der hinter dem Geröllhaufen sie bemerkte. Da begann er zu pfeifen, der Borkaräuber! Eine einfache, kleine Melodie, die hatte sie schon einmal gehört.
Ja, wahrhaftig, sie hatte sie schon gehört! Birk hatte sie gepfiffen, als er sich abgemüht hatte, sie aus dem Loch der Rumpelwichte zu befreien. War es nun Birk, der ihr jetzt so nahe war, oder pfiffen alle Borkaräuber gerade diese Melodie? Sie brannte vor Neugier. Aber fragen konnte sie nicht, es wäre zu gefährlich gewesen. Doch irgendwie mußte sie herausfinden, wer da pfiff, und auch sie begann jetzt zu pfeifen. Sehr leise und dieselbe Melodie. Sofort wurde es drüben still. Eine gute Weile blieb es unheimlich still, und sie wollte schon davonstürzen, falls plötzlich ein unbekannter Borkaräuber über den Steinhaufen gekrochen kam und sie packte. Aber dann hörte sie Birks Stimme. Leise und zögernd, als wisse er nicht was er glauben solle. »Ronja?«
»Birk!« schrie sie so wild vor Freude, daß ihr fast derAtem stockte. »Birk, o Birk!«
Dann schwieg sie. Und gleich darauf fragte sie;
»Ist es wahr, daß du mein Bruder sein willst?«
Sie hörte ihn hinter dem Geröllhaufen lachen.
»Meine Schwester«, sagte er, »ich höre deine
Weitere Kostenlose Bücher