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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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und zu verarbeiten, war ein Hof für ihn ein Ort des Todes, ein kleiner, rechteckiger Friedhof für die Frauen, die ihn liebten.
    Doch jetzt erfüllte ihn schon der Gedanke an Mrs. Steinbergs Garten mit Freude - er dachte dann an all das, was er an den Steinbergs so sehr liebte, an ihren Lebensstil, an das, was er insgeheim immer ersehnt hatte, seine guten Großeltern ihm aber nicht hatten bieten können. Extravaganzen waren ihm so fremd, dass er ein Haus mit mehr als einer Toilette als Gipfel des Luxus betrachtete. Er hatte stets einen starken Familiensinn besessen, ohne selbst eine Familie im traditionellen Sinn zu haben, und manchmal, wenn er mit Marcia allein in dem Haus gewesen war - was wegen ihrer kleineren Schwestern äußerst selten vorkam -, hatte er sich vorgestellt, sie seien verheiratet, und dieses Haus, dieser Garten, diese häusliche Ordnung und die zahlreichen Toiletten gehörten ihnen. Wie wohl er sich in diesem Haus fühlte! Und doch erschien es ihm wie ein Wunder, dass er dort eingeführt war.
    Dr. Steinberg kehrte mit den Gläsern voll Limonade auf die Veranda zurück. Nur über dem Sessel, wo er die Abendzeitung gelesen und seine Pfeife geraucht hatte, leuchtete eine Lampe. Nun nahm er die Pfeife wieder auf, entzündete sie aufs Neue und zog und paffte, bis sie zufriedenstellend brannte. Das kräftige Aroma des Pfeifenrauchs dämpfte den Gestank aus Secaucus ein wenig.
    Dr. Steinberg war ein schlanker, beweglicher, eher kleiner Mann mit einem großen Schnurrbart und einer Brille, die dick, wenn auch nicht ganz so dick war wie die von Mr. Cantor. Seine Nase war groß und eigenartig: oben gekrümmt wie ein Säbel, an der Spitze aber flach, und der Knochen war genau so geformt wie ein geschliffener Diamant - kurz gesagt, es war eine Nase wie aus einem Märchen, die Art von großer, gebogener, fein geformter Nase, wie sie die Juden, obwohl sie allenthalben den größten Nöten ausgesetzt gewesen waren, nie aufgehört hatten hervorzubringen. Am meisten stach sie ins Auge, wenn er lachte, was er gern und häufig tat. Er war immer freundlich, einer dieser Hausärzte, die nur mit einer Krankenakte in der Hand ins Wartezimmer zu treten brauchen, und schon hellen sich die Mienen der Patienten auf. Wenn er mit dem Stethoskop kam, schätzte man sich glücklich, sich in seiner Obhut zu befinden. Marcia gefiel es, dass ihr Vater, ein Mann von natürlicher, schmuckloser Autorität, seine Patienten scherzhaft, aber wahrheitsgemäß als seine »Meister« bezeichnete.
    »Marcia hat mir erzählt, dass du ein paar deiner Jungen verloren hast. Es tut mir schrecklich leid, das zu hören, Bucky. Eigentlich ist Polio gar nicht so tödlich.«
    »Bis jetzt haben vier Polio bekommen, und zwei sind gestorben. Zwei Jungen. Grundschüler. Zwölf Jahre alt.«
    »Du hast eine große Verantwortung für all diese Jungen«, sagte Dr. Steinberg, »besonders in Zeiten wie diesen. Ich bin jetzt seit über fünfundzwanzig Jahren Arzt, aber jedesmal, wenn ich einen Patienten verliere, und sei es durch Altersschwäche, bin ich erschüttert. Diese Epidemie muss eine schwere Last auf deinen Schultern sein.«
    »Das Problem ist: Ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue, wenn ich ihnen verbiete, Ball zu spielen.«
    »Hat denn jemand behauptet, du tätest das Falsche?«
    »Ja, die Mutter von zwei der Jungen, die gerade erkrankt sind. Ich weiß, dass sie hysterisch war und einfach um sich geschlagen hat, aber das hilft mir nicht weiter.«
    »Das kann einem Arzt auch passieren. Wie du sagst, werden Menschen, die Schmerzen erleiden müssen, oft hysterisch, und wenn sie mit der unvermeidlichen Ungerechtigkeit der Welt konfrontiert werden, schlagen sie einfach blindlings zu. Die Jungen bekommen nicht dadurch Polio, dass sie Ball spielen. Sie bekommen Polio durch ein Virus. Wir wissen vielleicht nicht viel über diese Krankheit, aber das immerhin wissen wir. Überall spielen Kinder den ganzen Sommer über draußen, und selbst bei einer Epidemie wie dieser wird nur ein sehr kleiner Prozentsatz krank. Und von denen wiederum erkrankt nur ein sehr kleiner Prozentsatz ernstlich. Und von diesen sterben nur sehr wenige - sie sterben an Lähmungen der Atemmuskulatur, und die sind relativ selten. Nicht jedes Kind, das Kopfschmerzen hat, ist ein Fall paralytischer Polio. Darum ist es so wichtig, die Gefahr nicht zu übertreiben und normal weiterzuleben. Es gibt nichts, weswegen du dich schuldig fühlen müsstest. Das ist manchmal eine natürliche Reaktion,

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