Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
einer natürlichen Begabung zu übersinnlichen Fähigkeiten geboren worden. Woher die kamen, wusste niemand. Es gab keine anderen Fälle in ihrer Familie. Anfangs hatte man sie einfach ignoriert. Doch mittlerweile hatte sich aus diesen Fähigkeiten der böse Blick extrem herausgebildet. Wann immer sich das Kind ärgerte, drängte er nach außen, und derjenige, über den Jenny sich geärgert hatte, hatte einen kleinen Unfall oder verlor etwas. Bislang hatte es nur geringfügige Schäden gegeben, doch es konnte ungeahnte Ausmaße annehmen, wenn sie nicht schleunigst lernte, mit dieser Fähigkeit umzugehen und sie zu kontrollieren.
Erfreulicherweise wollte sie selbst niemandem schaden und bekam Angst, wenn es wieder passierte. Das war gut. Denn ein Kind, das Freude an solch einer Fähigkeit hat, war weitaus schwieriger. Sehr gefährlich und unberechenbar.
Wir hielten vor einem schicken zweistöckigen Einfamilienhaus in Kensington. Jennys Eltern hatten viel Geld. Aber damit ließen sich die Probleme ihrer Tochter nicht lösen. Wenn das, was Mr. und Mrs. Hawkins Franklin berichtet hatten, auch nur annähernd stimmte, konnte das Mädchen unmöglich hier bleiben und ein normales Leben führen. Franklin hielt mir galant das Gartentor auf, und gemeinsam gingen wir die wenigen Schritte bis zur Haustür. Eine blonde Frau Mitte dreißig öffnete uns.
„Mr. Smithers! Ich bin ja so froh, dass sie gekommen sind!“ Sie bat uns herein und musterte mich neugierig.
„Meine Assistentin, Melissa Ravenwood“, stellte er mich vor. „Sie arbeitet unter anderem auch im Kinderhort der Ashera.“
„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Ravenwood“, sagte sie sanft und reichte mir die Hand. Eine gute Frau, eine liebevolle Mutter. Das konnte ich spüren. Sie machte sich unendlich große Sorgen und fürchtete sich davor, ihr Kind aufgeben zu müssen. Aber ihre Liebe zu Jenny war größer. Ich mochte Mrs. Hawkins auf Anhieb. Sie hatte mein tiefes Mitgefühl. Wie fühlt sich eine Mutter, die ihr einziges, über alles geliebtes Kind aufgeben muss?
Wir nahmen im Wohnzimmer Platz – ein gemütlicher, heller Raum – und Mrs. Hawkins brachte Tee und Ingwerkekse auf einem Tablett.
„Wo ist Jenny?“, fragte Franklin und schenkte den Tee ein.
„Sie ist noch in der Schule“, antwortete ihre Mutter mit einem Seufzen. „Es ist jeden Tag ein Hoffen und Bangen, dass nichts passiert. Sie ist eine Außenseiterin, die anderen Kinder haben Angst vor ihr. Das verschlimmert die Sache.“
„Als Sie mich anriefen sagten Sie, bisher seien die Attacken immer glimpflich ausgegangen. Hat sich daran inzwischen etwas geändert?“
„Leider ja. Letzte Woche hat Mr. Cooper, ihr Chemielehrer, sie vor der ganzen Klasse bloßgestellt, weil sie im Unterricht gemalt hat. Sie musste sich in die Ecke stellen. Darüber war Jenny so wütend, dass sie das Reagenzglas, das er in der Hand hielt, explodieren ließ. Mit einem Fingerschnippen. Einfach so.“ Mrs. Hawkins ahmte die Geste nach. Noch immer fassungslos, dass so etwas hatte geschehen können. „Mr. Cooper erlitt schlimme Verbrennungen im Gesicht und wird vermutlich sein rechtes Auge verlieren. Seitdem ist Jenny vom Chemieunterricht ausgeschlossen. Sie wollten sie ganz von der Schule verweisen, aber mein Mann hat den Direktor überzeugt, dass es genügen würde, sie vom Sport und den Naturwissenschaften freizustellen. Wir wissen einfach nicht mehr, wie das weitergehen soll.“
Sie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Hawkins! Wir werden gut auf Jenny aufpassen. Die Ashera weiß solche Dingen zu handhaben. Bei uns wird sie schnell lernen, verantwortungsbewusst damit umzugehen.“
Draußen auf dem Weg erklangen Schritte.
„Ich werde öffnen“, sagte ich, als Mrs. Hawkins aufstehen wollte. Franklin stimmte mir mit einem Nicken zu.
Das Kind, dem ich die Tür öffnete, wirkte nicht im Mindesten bedrohlich. Ein kleines Mädchen mit blonden Engelslocken und einem hübschen sommersprossigen Gesicht, das mich aus riesigen blauen Augen aufmerksam anschaute.
„Du bist keine von Mummys Freundinnen“, stellte Jenny äußerst sachlich fest.
„Nein, das bin ich nicht.“
„Aber du bist auch keine Ärztin.“
Ich musste lachen. „Wieder richtig. Ärztin bin ich auch nicht. Aber woher weißt du so genau, dass ich keine bin.“
Gleichgültig zuckte sie die Achseln. „Die sind anders. Die schauen mich an und denken schon direkt daran, welche Tests sie wohl
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