Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
mit mir machen könnten. Das ist immer so. Du hast das nicht getan.“
Dann konnte sie also auch Gedanken lesen. Interessant. Sie wusste, warum wir hier waren. Dass wir sie mitnehmen würden. Erstaunlicherweise war auch sie der Meinung, dass es so das Beste sei. So tapfer – so erwachsen. Trotzdem wurde es ein tränenreicher Abschied. Jenny klammerte sich in ihrer Verzweiflung und Angst an mich, als wäre ich ihr rettender Strohhalm.
„Wirst du von jetzt an meine Mummy sein?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme, als wir Auto saßen.
Dieses grenzenlose Vertrauen innerhalb von wenigen Minuten überraschte und bestürzte mich. Ein leiser Anflug von Panik breitete sich in mir aus. Dieses Kind setzte Erwartungen in mich, die ich nicht erfüllen konnte.
„Nein, Jenny, deine Mummy werde ich dir nicht ersetzen können. Aber ich kann deine Freundin sein, wenn du willst. So was wie eine große Schwester.“
Ich würde alles tun, damit sie sich in Gorlem Manor zuhause fühlte. Mit einem dicken Kloß im Hals fragte ich mich, wie wir so etwas tun konnten – einem Kind die Mutter nehmen. Als wir im Mutterhaus ankamen, nahm ich Jenny erst einmal mit zu mir, bis sie sich eingewöhnt hätte. Franklin hatte nichts dagegen.
Wie ein Häufchen Elend saß sie an diesem ersten Abend auf meinem Bett, kaute lustlos auf einem Biskuit und starrte Löcher in die Luft.
„Du hast dich bestimmt bald eingelebt“, versuchte ich sie zu ermutigen. „Bei mir ging das auch ganz schnell.“
„Wie bist du hierher gekommen?“
„Ich musste mein altes Zuhause verlassen. Und die Ashera hat mir ein neues gegeben. Das ist noch gar nicht so lange her.“
„Und wo hast du bis dahin gelebt?“
Ich seufzte. Eigentlich wollte ich die Geschichte gar nicht erzählen. Es war schon schlimm genug, dass ich selbst ständig daran denken musste.
„Na, nun erzähl es ihr schon!“, schaltete Osira sich ein.
„Das ist ja ein Wolf!“, stieß Jenny staunend hervor. Ich war sprachlos, weil sie Osira sehen konnte.
„Wenn ich das will“, ließ Osira mich in Gedanken wissen und sprang zu Jenny aufs Bett, um sich neben ihren Beinen zusammenzurollen. „Erzähl es ihr, Melissa! Es wird euch beiden helfen, wenn du es aussprichst.“
Aufmerksam schaute Jenny mich an und kraulte dabei vertrauensvoll Osiras dichtes Fell. Die fing wohlig an zu schnurren, fast wie eine Katze.
„Manchmal bin ich gar nicht so sicher, ob du wirklich ein Wolf bist“, stellte ich amüsiert fest.
Dann begann ich, diesem kleinen Mädchen meine Lebensgeschichte zu erzählen. Von meiner Kindheit, den verworrenen Erinnerungen, dem Sommer meiner Ausbildung, meiner Flucht und schließlich von meinem Leben bei der Ashera. Nur D’Argent verschwiegich ihr. Je mehr ich erzählte, desto leichter wurde mir ums Herz und desto besser ging es auch Jenny. Als ich fertig war, sagte sie ruhig:
„Ich bin froh, dass ich in meinem neuen Zuhause eine große Schwester habe. Und eines verspreche ich dir ganz fest, Mel.“
„Was denn?“, fragte ich und beugte mich zu ihr rüber, weil sie mich so verschwörerisch ansah. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern.
„Ich werde dich vor der bösen alten Hexe beschützen.“
Ich wusste nicht, ob ich darüber lachen oder weinen sollte. Wie dieses Kind mich vor einer mächtigen Hohepriesterin wie Margret Crest beschützen wollte, war mir ein Rätsel. Doch es stimmte mich nachdenklich, wie selbstbewusst sie war.
Die ersten Tage waren schwierig für sie, besonders, nachdem sie in ihr eigenes Zimmer umziehen musste. Franklin und Camille machten viele Tests, um zu sehen, wie weit ihre Fähigkeiten entwickelt waren und wie gut sie sie steuern konnte. Ich versuchte, so oft wie möglich in ihrer Nähe zu sein, doch manchmal hatte ich keine Zeit. Schließlich hatte ich meine festen Aufgaben im Mutterhaus. Und Franklin hatte mir auch noch eine ‚Strafarbeit’ aufgebrummt.
„Ich möchte, dass du alles, was du bisher über Vampire erfahren hast, zusammenfasst. Mach ein Referat darüber.“
„Eine Strafarbeit für beständigen Ungehorsam?“
Er blieb mir die Antwort schuldig, und ich dachte mir meinen Teil. Die Arbeit nahm mich ziemlich in Anspruch, so dass ich tagsüber immer nur kurz nach Jenny sehen konnte und sie dann wieder Camille und Franklin überließ. Zum Glück mochte sie die beiden. Es gab also keine Probleme. Überraschend war, dass Jenny kaum Heimweh hatte und nur wenig von ihrem Elternhaus sprach. Verdrängungsmentalität, meinte
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