Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
losgelassen.“
„Du bist dir da so sicher? Fast, als wärest du dabei gewesen. Das war doch lange vor deiner Zeit.“
Gedankenvoll und mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen senkte er den Blick. „Ich hatte einen ausgezeichneten Lehrmeister.“
„Oh.“
Bei dem Gedanken an Lemain bekam ich wieder eine Gänsehaut.
„Nein, nicht Lemain“, beruhigte er mich. „Ein anderer Vampir. Viele Jahre nach meiner Wandlung. Ich fand ein neues Heim bei ihm und einen neuen Gefährten in ihm, als ich Lemain verließ. Er wusste alles, was es über die Weltgeschichte zu wissen gibt.“
Ich wurde hellhörig und atmete erleichtert auf, dass es nicht um Lemain ging. Versonnen spielte Armand mit den Grashalmen, die um ihn herum wuchsen. Ich hörte ihm interessiert zu. Ein Vampir, der weise war? Ideale hatte? Vielleicht jemand wie Athaír?
„Er hatte unzählige Bücher und Schriftrollen und hielt mich stets dazu an, sie alle zu lesen und mir einzuprägen. Er brachte mich sogar in die geheimen Bibliotheken des Vatikan, wo ich Schriften sah, deren Existenz sich kein Mensch vorstellen kann, der sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Wir redeten stundenlang über all die Epochen, die er durchlebt hatte. Sein Wissen erschien mir unfassbar groß, und er hielt nichts vor mir zurück. Durch ihn bekam mein unsterbliches Leben wieder einen Sinn. Wäre er nicht gewesen, wer weiß, vielleicht hätte ich meiner Unsterblichkeit freiwillig ein Ende gesetzt.“ Armand seufzte tief. „Doch so sehr ich ihn auch liebte, ich hatte immer Angst, dass er mich eines Nachts töten würde. Er war mächtiger, als ich es je sein werde. Mächtiger, als Lemain es je sein wird. Und er war ein Meister des schmerzlosen Todes. Mit einem kalten Herzen gegenüber seinen Opfern. Immer wieder hat er mir vor Augen geführt, dass Menschen nichts als Futter für uns sind. Bestenfalls ein kurzer Zeitvertreib.Liebe ist kein Gefühl für einen Vampir, sondern nur für die Menschen, weil sie vergänglich ist, wie die Menschen auch. Aber ich habe nie gesehen, dass er einen Menschen leiden ließ, wenn er ihn tötete. So viel Rücksichtnahme, wo er doch vorgab, so wenig Gefühl zu haben.“
Dieses Bild gefiel mir deutlich weniger als das, welches er zuerst von seinem Lehrer gemalt hatte. Anscheinend war dieser Vampir doch nicht so ein herrliches Geschöpf, wie ich noch Minuten zuvor geglaubt hatte. Meine Neugier war verflogen. Ich wollte nichts mehr hören über Vampire und über Blut. Ich wollte nach Hause. Und zwar sofort.
Unruhig erhob ich mich und rief nach Jenny. „Wir sollten uns jetzt auf den Rückweg machen.“
Er wäre gern noch länger geblieben und hätte das Kind in seiner kleinen Phantasiewelt beobachtet. Das Kind, das vielleicht seines hätte sein können, wenn er noch sterblich gewesen wäre. Doch er gab nach, weil er spürte, was seine Worte in mir bewirkt hatten. Auch Jenny wagte nur einen kurzen Widerspruch, als er die Hand nach ihr ausstreckte, um sie für den Flug wieder sicher in seine Arme zu schließen.
Als wir wieder allein waren in meinem Zimmer im Mutterhaus, glühte Jennys Gesicht noch vor Aufregung und Freude.
„Das müssen wir unbedingt wieder machen, Mel! Das war so schön!“
„Schauen wir mal. Aber bitte, kein Wort zu Franklin oder Camille! Ich bekomme sonst eine Menge Ärger.“
Sie versprach es. Aber Franklin wusste trotzdem Bescheid. Er war noch einmal in meinem Zimmer gewesen, hatte das Chaos gesehen und sofort eins und eins zusammengezählt. Da auch Jenny nicht in ihrem Zimmer gewesen war, bestand für ihn kein Zweifel, dass wir sie mit auf unseren Ausflug genommen hatten.
„Bist du wahnsinnig geworden?“, schrie er mich an. Er hatte noch nicht gesagt, weshalb er mich in aller Frühe hatte rufen lassen, aber ich wusste es sehr wohl.
„Es war doch nur ein kleiner Ausflug.“
„Melissa, er ist ein Vampir! Und Jenny ist ein Kind. Du könntest nicht das Geringste tun!“
„Armand würde doch kein Ashera-Mitglied angreifen.“
„Ach, würde er nicht? Muss ich dich erst daran erinnern, was er mit Ben gemacht hat?“
Mist! Ich senkte zerknirscht den Blick. „Das war doch etwas ganz anderes.“
„Jetzt hör mir mal gut zu. Was du mit deinem Leben machst, ist deine Sache. Du bist alt genug. Aber ich bin für Jenny verantwortlich. Ich habe die Vormundschaft für sie. Ihre Eltern haben sie mir anvertraut. Es könnte sogar gerichtliche Schritte nach sich ziehen, wenn dem Mädchen etwas zustieße, weil ich nicht
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