Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
wundervollen Blick auf den Park an der Westseite von Gorlem Manor mit seinen uralten Eichen und verschlungenen Wegen. Direkt vor dem Fenster befand sich ein Brunnen, dessen Zentrum zwei Engel bildeten. Voreinander kniend, mit betend aneinander gelegten Händen und demütig gesenktem Haupt. Zwischen ihnen ein muschelförmiges Becken. Ihre Flügel wölbten sich hoch über ihre Köpfe und liefen dann an den Spitzen in einer Schale zusammen, in der sich das Wasser sammelte. Von dort aus plätscherte es gemächlich wieder in das Becken am Boden. Wenn man an heißen Tagen die Fenster öffnete, wehte ein angenehm kühler Hauch von dem Brunnen ins Arbeitszimmer herüber. „Komm nur rein, Melissa!“, bat Franklin und lächelte mich freundlich an. Er bot mir den Stuhl gegenüber von seinem Schreibtisch an.
Das Buch der Schatten lag geschlossen vor ihm.
„Mel“, begann er vorsichtig, „ dieses Buch von Margret Crest … Hast du …“, er zögerte, „Hast du darin gelesen?“
„Nein, bisher nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich hatte es nur an dem Morgen, an dem Margret es mir gegeben hatte, flüchtig überflogen.
„Gut!“
Er schien erleichtert. Weshalb? „Ist etwas nicht in Ordnung, Franklin?“
„Nun, wir haben das Buch überprüft und einige Tests durchgeführt.“ Wieder machte er eine Pause. „Komm doch bitte zu mir. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Ich umrundete den Schreibtisch und stellte mich neben ihn. Er schlug wahllos eine Seite des Buches auf. Auf der einen Seite waren ein paar Kohlezeichnungen. Auf der anderen stand mit klaren Lettern die Beschreibung eines Rituals. „Sieh hin, Melissa. Und öffne dich. Versuche nicht, zu lesen. Sieh einfach nur hin.“
Ich tat, worum Franklin bat und blickte auf die aufgeschlagenen Seiten. Eigentlich nichts besonderes. Ein Ritual eben. Aber dann passierte plötzlich etwas mit den Schriftzeichen. Sie veränderten sich vor meinen Augen. Erschrocken fuhr ich zurück.
„Was ist das?“
„Gut, dass du noch nicht darin gelesen hast“, klärte Franklin mich auf. „Es ist in magischer Schrift geschrieben. Sozusagen verschlüsselt – codiert. Während du die Worte liest, prägt sich dein Geist etwas anderes ein. Nämlich das, was wirklich dort steht. So hätte sie dich ohne weiteres zu ihrer Marionette machen können.“ Ich war schockiert. Mir war nicht bewusst gewesen, dass so was möglich war. „Mir kam gleich seltsam vor, dass sie dich ohne Widerstand ziehen ließ. Dass sie auf deine Flucht nicht reagiert hat. Aber nachdem ich dies hier gesehen habe … Sie ist wohl davon ausgegangen, dass du das Buch auf deiner Flucht gestohlen hast und hat darin die perfekte Möglichkeit gesehen, dich doch noch in ihre Fänge zu bekommen. Wenn du erst angefangen hättest, darin zu lesen, wärst du ganz von selbst zu ihr zurückgekehrt. Dann hätte sie dich besser unter Kontrolle gehabt als je zuvor.“ Erschüttert ließ ich mich auf die Tischkante sinken. „Wir wussten, dass Margret eine sehr mächtige Hexe ist. Deshalb habe ich auch von dir verlangt, das Buch als Pfand zu bringen und es mir sofort auszuhändigen. Es ist zu gefährlich, um es weiterbestehen zu lassen. Wir werden es vorerst unter Verschluss halten und es vernichten, sobald wir einen sicheren Weg dafür gefunden haben.“
Camille Arijout
Inzwischen hatte ich mich eingelebt und war mit den meisten meiner Brüder und Schwestern bekannt und mit einigen auch sehr vertraut. Mir taten Bens Fürsorge, Virginias Humor und Andreas Unbeschwertheit gut. Erst jetzt, wo mir all das zuteil wurde, fiel mir auf, wie wenig ich davon bei Margret Crest gehabt und wie sehr ich es im Grunde meines Herzens vermisst hatte. Hier hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Familie – eine strenge, aber liebende Familie.
An einem Dienstagnachmittag rief Franklin mich in sein Arbeitszimmer. Als ich eintrat, war er nicht allein. Eine Frau, die ich bisher nur sehr selten im Mutterhaus gesehen hatte, obwohl auch sie hier zu leben schien, war bei ihm.
„Melissa“, sagte Franklin sanft, „Das ist Camille Arijout. Sie ist eine Hexe wie du, von der Göttin Gnade. Sie ist sehr mächtig und klug. Camille wird deine Ausbildung übernehmen und dein Mentor sein.“
Das überraschte mich. Ich dachte, Franklin und Ben hätten diese Position eingenommen. Schüchtern blickte ich die ältere Frau an. Camille mochte Ende sechzig, Anfang siebzig sein, sah aber viel jünger aus. Nur wenige graue Strähnen durchzogen ihre
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