Runlandsaga - Feuer im Norden
bleib unten!«
Der Junge nickte und lief geduckt unter das Fenster, durch das kurz zuvor die anderen geflohen waren. Enris folgte ihm mit eingezogenem Kopf. Immer noch drangen entfernt Schreie durch die Nacht zu ihnen in den Saal. Er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, wer es war, der dort sein Leben beendete, und auf welche Weise. Wenn Arcad und Suvare es nur bis zum Hafen schafften!
»Sobald ich dir Bescheid gebe, verschwindest du durch das Fenster«, sagte er, an Mirka gewandt. »Lauf nicht über die Treppe, sondern spring genau vor dir vom Vorbau herunter. Sieh dich nicht nach mir um und halte auf keinen Fall an, egal, was passiert. Verstanden?«
Der Junge nickte atemlos.
»Renn den Weg hinunter zur Stadt. Hör erst auf zu laufen, wenn du die Hafenmauer vor dir hast!«
»Aber was ist mit meiner Mutter? Ich muss sie suchen!«
»Nein!« Enris packte ihn hart am Arm und hielt ihn fest. Mirka starrte ihn erschrocken an. »Dazu ist keine Zeit! Deine Mutter wird einen Fluchtweg finden. Wenn die Ersten aus dieser Versammlung die Stadt erreichen und die Bewohner warnen, dann hat deine Mutter einen größeren Vorsprung als wir.«
Er ließ Mirka los. »Geh jetzt. Vergiss nicht, erst anzuhalten, wenn du am Hafen bist!«
Mirka zögerte kurz, als wolle er noch etwas erwidern, dann aber drehte er sich um und zog sich an der Fensterbank hoch. Er hielt einen weiten Abstand zur linken Ecke, die durch den ersten Brandpfeil bereits lichterloh in Flammen stand. Schnell war er verschwunden. Enris vernahm ein paar Schritte, dann hörte er nur noch das Prasseln des Feuers und entfernte Schreie. Der zunehmend dichte Qualm im Raum brachte ihn zum Husten. Er schluckte angestrengt, doch das Stechen in seiner Lunge nahm kaum ab.
Jetzt war er an der Reihe. Er wusste, dass es für ihn gefährlicher werden würde. Wenn die Angreifer den Jungen bemerkt hatten, dann rechneten sie nun damit, dass noch jemand aus dem brennenden Gebäude durch das Fenster fliehen könnte. Wahrscheinlich zielten sie gerade jetzt auf die Öffnung und warteten nur, bis er seinen Versuch wagte.
Seine Beine wollten ihn nicht vorwärtsbewegen. Gleichzeitig rasten seine Gedanken wie aufgescheuchte Mäuse durch seinen Kopf. Immer noch am Boden kauernd fiel sein Blick erneut auf den brennenden Körper in der Nähe des Eingangs. Vielleicht gab es doch noch einen Weg, demselben Schicksal zu entgehen und das unausweichliche Totenboot einen weiteren Tag aufzuhalten. Es war ihm heute schon einmal gelungen ...
Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn. Mit halb zusammengekniffenen Augen gelang es ihm schließlich, sich trotz seiner Angst aufzurichten. Wenn er schon sterben musste, dann sollte es wenigstens schnell gehen.
Enris zog sich über den Fensterrahmen. Er vernahm ein leises Schwirren, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, als ein Pfeil ohne Brandsatz dicht an ihm vorbeiflog und sich in das Holz der Außenwand bohrte. Schnell ließ er sich auf den Boden des Vorbaus fallen.
Sein Herz raste. Ohne auch nur für einen Moment anzuhalten wälzte er sich über die Holzbohlen nach vorne und rollte zwischen zwei Säulen, die das Dach des Vorbaus trugen, über den Rand. Schmerz fuhr wütend durch seine Hüfte, als er mehrere Fuß unterhalb des Gebäudes auf dem Boden aufkam.
Nicht liegen bleiben!, trieb ihn eine innere Stimme an, wobei er unwillkürlich an Arcad denken musste. Sofort sprang er wieder auf die Beine und rannte geduckt vorwärts. Ein weiterer Pfeil verfehlte ihn um Haaresbreite.
Im fahlen Mondlicht sah Enris die Angreifer zum ersten Mal. Eine Gruppe mannshoher Gestalten stand in etwa fünfzig Fuß Entfernung von ihm auf dem Hang. Sie hatten sich in kurzen Abständen voneinander halbkreisförmig ausgefächert aufgestellt, sodass sie den Eingang der Halle und die Längsseite des Gebäudes überblickten. Vor ihnen lagen mehrere Körper reglos im Gras, einige waren von brennenden Pfeilen getroffen worden und standen in Flammen.
Die Angreifer waren gut zu erkennen, weil sie Fackeln vor sich in den Boden gesteckt hatten, an denen sie ihre Pfeile entzündeten. Die Bewegungen, mit denen sie die Halle in Enris‘ Rücken beschossen, waren so ruhig und zielgerichtet, als führten sie nicht einen brutalen Angriff durch, sondern übten ein Kunsthandwerk aus, das stete und gleichmäßige Aufmerksamkeit verlangte. Die Gesichter der Gestalten waren hinter Helmen verborgen, die ihre Köpfe umschlossen und nur einen dünnen waagerechten Schlitz in Augenhöhe
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