Runlandsaga - Wolfzeit
verhassten Kaufmanns ertragen zu müssen. Mit einem Seufzer stützte er sich auf die Fensterbank und sah auf das weite Land hinaus, das sich unter ihm erstreckte.
Direkt zu den Füßen des Ratsturms war ein Teil des von der Stadtmauer umfriedeten Geländes zu sehen, in dessen Mitte er stand. Enris erkannte eine große Anzahl winziger Gestalten, die so eifrig herumliefen wie Käfer über warmen Waldboden im Hochsommer. Immer wieder drangen Rufe schwach zu ihm herauf. Die Einquartierung der endlich angekommenen Flüchtlinge war in vollem Gang.
Hinter der Stadtmauer fiel die Anhöhe, auf die Menelon erbaut worden war, und deren Kamm der Ratsturm überragte, steil ab. Jenseits davon breitete sich ein Tal aus, das von Feldern und Wiesen mit kleineren Baumgruppen durchsetzt war. In der Ferne wurde es von einem Wald begrenzt, der die westlichen Ausläufer der Meldaanberge bedeckte. Hier, in unmittelbarer Nähe des Meeres, besaßen sie noch nicht ihre gewaltige Höhe, zu der sie weiter im Osten anwuchsen, dennoch stellten sie einen beeindruckende Grenze dar, einen dunstigen, grünen Horizont, der nach dem verwaschenen Blau des Mittagshimmels griff, so weit Enris sehen konnte.
Er hatte sich oft genug über Landkarten gebeugt, um zu wissen, was hinter diesem Höhenrücken lag. Verborgen vor seinen Augen begannen hier die Meran Ewlen, die Blauen Berge, deren gewaltiges, langgezogenes Rückgrat Runland bis tief in den Süden in zwei Hälften spaltete. Im Westen verliefen sie am Rand der Nordprovinzen entlang, teilten sich über eine lange Strecke hinweg und umrahmten das Regenbogental wie die Fassung eines Juwels, bevor sie sich wieder trafen. Die Clansgebiete des Nordens wiederum grenzten an die Hochebene von Tool mit ihren tückischen Mooren.
Dort ragten die Eisenberge mit ihren reichen Erzvorkommen empor, ein schier undurchdringliches Gewirr von schroffen Felswänden und steilen Klüften jenseits der Baumgrenze. Reisende mieden für gewöhnlich diese einsame Gegend und wählten den Seeweg. Wer sich aber auf die Führung der Zwerge verließ, deren Heimat die Eisenberge waren, der gelangte nach gefahrvollem Überqueren der Gebirgspässe zu den Steppen von Ceranth und der Halbinsel von Haldor mit der Handelsstadt Tyrzar an ihrer Nordküste.
Enris’ Fäuste, die auf dem warmen Mauerwerk des Turmes ruhten, ballten sich, während ein stechender Schmerz seinen Magen krampfen ließ.
Tyrzar!
Irgendwo dort im Süden, noch hinter den Meldaanbergen und einem weiteren riesigen Gebirge, das er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, befand sich seine Heimatstadt. Verborgen von seinen angestrengt in die Ferne starrenden Augen gingen dort seine Verwandten ihrem Tagwerk nach. Jetzt, am Mittag, stand sein Vater bestimmt gerade in einem Lagerhaus des Hafens, umgeben von zu verschiffenden Fellen, und überlegte sich, wo er auf die Schnelle etwas zu essen auftreiben konnte. Meistens kam er erst gegen Abend nach Hause und aß unterwegs. Ob die Nachrichten, was sich hier im Norden zutrug, Tyrzar wohl schon erreicht hatten?
Der weite Blick, den man vom Ratsturm aus über das Land besaß, machte Enris schmerzlich die riesige Entfernung bewusst, die ihn von seiner Familie trennte. Letztendlich war seine Heimatstadt ebenso in Gefahr wie jeder andere Ort in Runland. Aber er konnte sich nicht mit dem nächsten Schiff nach Haldor aufmachen. Das hieß nur, das Unvermeidliche hinauszuzögern, so wie diejenigen unter den Ratsleuten, die nicht weiter dachten, als bis zu ihrer Flucht ins Regenbogental. Sein Weg war ein anderer, ob er es nun wollte oder nicht.
»Manchmal wünschte ich mir, ich hätte Margon und Arcad niemals kennengelernt«, murmelte er. Er zuckte zusammen, als er seine eigenen Worte hörte. Für einen Moment hatte er vergessen, dass er nicht allein war.
»Es ist nur so,« fuhr er schnell fort, »ich habe das Gefühl, dass anscheinend alle glauben wollen, ich sei so etwas wie Margons und Arcads Erbe, oder ihr Schüler. Ich lasse sie in dem Glauben, weil es sich dann anfühlt, als wäre etwas von den beiden noch am Leben, als wären sie nicht völlig fort. Dabei weiß ich fast nichts von dem, was sie wussten. Ich bin nur ein Hochstapler.«
Die Herrin des Regenbogentals schmunzelte. »Nun, anscheinend ist dir hier oben noch nicht die Luft zum Atmen ausgegangen.« Ihre Miene wurde wieder ernst. Sie sah ebenfalls über das weite Land hinaus. »Der Ratsturm wurde nicht ohne Grund gebaut. Von hier aus können Menelons Älteste die Gegend
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