Russka
und Schreiben, die Grundzüge der Arithmetik und ein paar Brocken Latein gelernt hatte. Sein Haar war tiefschwarz, seine Haut dunkel, sein Bart wuchs spärlich wie bei einem Mongolen, doch dafür hatte er einen langen, herabhängenden Schnurrbart. Aus dem runden Gesicht mit den hohen Backenknochen blickten braune mandelförmige Augen. Wenn auch manche Züge von der schönen Tatarenfrau kamen, die sein Großvater Karp, der Ausreißer, genommen hatte, so glich Andrej mit seiner hohen Statur und seiner anmutigen Haltung doch insgesamt dem Großvater. Der slawische Charme und der selbstbewußte Blick machten den jungen Mann anziehend für so manche Frau.
Andrej hatte das Gefühl, daß in ihm zwei Seelen im Widerstreit lagen: Einerseits liebte er seine Familie und den Hof, andererseits war er ein wilder Geist, der sich danach sehnte, die Steppe bis zum Horizont und noch weiter zu durchstreifen. Was sollte er tun? Langsam, in Gedanken versunken ritt er zurück zu dem kurgan, wo er innehielt und über die Felder und die Steppe blickte. Welch wundervolles Land dies doch war mit den langen Sommern und der fruchtbaren schwarzen Erde! Seit einiger Zeit hieß dieses ehemalige Kiever Gebiet »Ukraine«: das reiche, das goldene Land. Und dennoch beklagte sich der alte Ostap, wenn er seine wogenden Getreidefelder betrachtete. Denn die Ukraine wurde von dem katholischen König Polens regiert. Vier Jahrhunderte zuvor waren Ostaps Ahnfrau Yanka und ihr Vater vor den Tataren nach Norden geflohen. Seither hatten die Tataren allmählich ihren Einfluß auf die alten Kiever Territorien verloren, und das mächtige Litauen war von Norden her an ihre Stelle getreten. Aus diesem Grund wanderten viele Bewohner aus der fruchtbaren Gegend um den Dnjepr ab. Erst nach und nach fanden sich wieder Siedler dort ein.
Es war gefährliches Grenzgebiet. Alle paar Jahre stürmten plündernde Horden von Krim-Tataren über die Steppe und nahmen sich Sklaven. Kleinere Überfälle waren an der Tagesordnung. Wenn Ostap und seine Leute zum Pflügen gingen, nahmen sie, wie die übrigen Siedler auch, immer ihre Musketen mit. Und doch war es freies Land. Die litauische Herrschaft war nicht allzu streng. Außerhalb der Städte konnte man sich das Land einfach nehmen. Die größeren Städte wie Kiev und Perejaslavl standen weitgehend unter Selbstverwaltung, gemäß dem sogenannten Magdeburger Stadtrecht. So hätte dieser Teil der Ukraine weiterhin reiches Grenzland bleiben können, bewohnt von Kosaken, slawischen Bauern, freien Städtern und litauischem niederem Adel, durchweg Anhänger des orthodoxen Glaubens des ehemaligen Landes der Rus.
Das hatte sich jedoch achtzig Jahre zuvor geändert, als in der Union von Lublin im Jahre 1569 die beiden Staaten Polen und Litauen formell zu einem einzigen Staat verschmolzen wurden. Der Adel konvertierte zum Katholizismus, mächtige polnische Fürsten übernahmen ausgedehnte Ländereien im Gebiet des Dnjepr, und wenn auch die Städte das Magdeburger Stadtrecht beibehielten, erfuhr die übrige Ukraine, was es bedeutete, unter polnischen Herren zu leben, die ihre Mißachtung offen zeigten.
Wie konnte ein polnischer Adliger es wagen, einen Kosaken zu verachten! War er nicht ein freier Mann? Der große Verbund der Kosaken setzte sich aus drei Gruppen zusammen. Vierhundert Meilen entfernt hatten im Südosten, wo der mächtige Don die Küste des Schwarzen Meeres erreicht, die Don-Kosaken ihre zahlreichen Siedlungen.
In dem südlichen Kiever Gebiet lebten die Dnjepr-Kosaken, stolze, unabhängige Männer wie Andrejs Vater. Und schließlich gab es tief im Süden in der wilden Steppe unterhalb der Dnjepr-Stromschnellen die Zaporoger Kosaken, eine ungebändigte, unberechenbare Horde, die in einem riesigen Lager lebte, in dem keine Frauen zugelassen waren.
Von dort kamen die beiden als Mönche verkleideten Burschen. Andrej war wirklich stolz, ein Kosak zu sein. Als kleines Kind schon erfuhr er von den Heldentaten dieser Leute. Wer war denn von den mächtigen Stroganovs in der letzten Zeit der Regierung Ivans des Schrecklichen angeheuert worden, die ungeheure Wildnis Sibiriens zu erkunden und zu erobern? Der Krieger Ermak und seine Kosakenbrüder!
Die Don-Kosaken hatten die große Festung Azov am Schwarzen Meer den mächtigen osmanischen Türken abgenommen. Und die Zaporoger Kosaken waren nicht nur einmal, sondern zweimal mit ihren langen Schiffen nach Konstantinopel vorgedrungen und hatten die osmanische Flotte unter den Augen der
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