Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
Gefühl, dieser sei überdurchschnittlich intelligent. Was war er nur für ein Mensch? Mischa konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. Und als die zweite Flasche Wein schon fast geleert war, erkundigte er sich freundlich: »Ich hörte, lieber Herr, daß Ihr Vatername Pavlovitsch ist. Sind Sie zufällig der Sohn jenes Pavlo Popov, dessen Vater einmal Priester in Russka war?«
    Popov sah kaum von seinem Teller auf, während er teilnahmslos antwortete: »Ja.«
    In der Meinung, er habe ihn vielleicht beleidigt, fügte Mischa ebenso leutselig wie unehrlich hinzu: »Ein hervorragender Mann, Ihr Großvater.«
    »Tatsächlich?«
    Mischa bohrte weiter: »Ich hoffe, Ihrem Vater geht es gut.«
    »Er ist tot.«
    »Das tut mir leid.« Anna Bobrov hatte es einfach so vor sich hin gesagt.
    »Nein, das tut es nicht. Wie kann es Ihnen denn leid tun, wenn Sie ihm nie begegnet sind?« Popov sah die Gastgeberin ruhig an. Anna war verwirrt, und Mischa runzelte die Stirn. Nikolaj lächelte amüsiert. »Jevgenij haßt Unehrlichkeit und Floskeln. Er ist der Ansicht, man solle nur die Wahrheit sagen.«
    »Ganz recht«, stimmte Mischa bereitwillig zu – und erhielt seinerseits einen Verweis.
    »Warum sagen Sie dann, mein Großvater, dieser korrupte alte Idiot, sei ein hervorragender Mann gewesen?« kritisierte Popov und verletzte damit die Regeln der Höflichkeit. »Sie sind mein Gast«, murmelte Mischa und fügte dann verärgert hinzu: »Man sollte der Familie gegenüber etwas Respekt zeigen.«
    »Ich sehe nicht ein, warum, wenn es nichts zu respektieren gibt.« Eine peinliche Pause trat ein. Dann sagte Anna: »Familiensinn ist das Wichtigste auf der Welt.«
    »Unsinn! Zumindest nicht, wenn es nicht ernst damit ist.« Annas Mund öffnete sich erstaunt.
    »Popov meint, wir müßten mit der Falschheit auf allen Gebieten aufräumen. Schluß machen damit, ganz gleich, worum es geht«, erklärte Nikolaj. »Sie meinen also«, versuchte Anna das Phänomen zu ergründen, »alles, auch Güte gegen andere, gute Manieren, sollte abgeschafft werden? Was, um alles in der Welt, würde noch bleiben, wenn jeder das tun würde?«
    Popov lächelte. »Die Wahrheit«, sagte er schlicht. Mischa Bobrov lächelte ebenfalls. »Sie sind das, was man einen Nihilisten nennt«, sagte er.
    Jeder gebildete Russe wußte über diese radikalen Burschen Bescheid, nachdem Turgenjev sie in seinem berühmten Roman »Väter und Söhne« einige Jahre zuvor beschrieben hatte. Sie folgten dem russischen Philosophen Bakunin, der dafür plädierte, die Verlogenheit der Gesellschaft auszumerzen, da die Zerstörung überkommener Ideen zwar schmerzlich, doch kreativ sei. »Ich verstehe«, fügte Mischa nach kurzem Schweigen hinzu. »Nein, das tun Sie nicht.« Popov maß ihn mit geringschätzigen Blicken. »Sie sind typisch für Ihre Generation. Sie reden pausenlos, machen ein paar halbherzige Reformen, und in Wirklichkeit geschieht nichts.«
    Mischa Bobrov blieb der Atem weg. Als er sein Weinglas heben wollte, bemerkte er, daß seine Hand zitterte. Er schwankte zwischen Empörung über diese Unmanierlichkeit in seinem Haus und dem Gefühl, daß vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit in dem steckte, was der junge Mann sagte. »Die Reformen der derzeitigen Regierung wurden verwirklicht«, verteidigte er sich. »Wir haben die Leibeigenschaft abgeschafft, bevor die Amerikaner die Sklaverei abschafften.«
    »Theoretisch ja, aber nicht in der Praxis.«
    »Diese Dinge brauchen ihre Zeit. Sind Sie tatsächlich der Ansicht, in Rußland sei alles morsch?«
    »Natürlich! Sie vielleicht nicht?«
    Rußland war in der Tat erbärmlich rückständig. Die Bürokratie war berüchtigt für ihre Korruptheit. Selbst die gewählten zemstvo -Verwaltungen, auf die Mischa so stolz war, hatten keinerlei Einfluß auf die Zentralregierung des Reiches, die genauso autokratisch regierte wie in den Tagen Peters des Großen. Natürlich war sein geliebtes Rußland morsch. Aber stellten nicht aufgeklärte, liberal gesinnte Männer wie er bereits eine Veränderung dar? Oder sollte dieser ungehobelte und aggressive junge Mann etwa recht haben? Da plötzlich ergriff Anna das Wort. Sie hatte dem Wortgefecht genau zugehört. Im Grunde hatte sie nichts verstanden, doch eine Behauptung hatte sich ihr eingeprägt. »Sie sagen, der russische Staat sei morsch, und damit haben Sie absolut recht. Es ist eine Schande.«
    Nikolaj wandte sich seiner Mutter überrascht zu. »Und was sollte man dagegen unternehmen, Mutter?«

Weitere Kostenlose Bücher