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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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erkundigte er sich. »Wie soll ich das wissen?« Dann sprach sie unbewußt für die große Mehrheit des russischen Volkes: »Das muß die Regierung entscheiden!«
    »Soeben haben Sie das Problem gelöst, Madame«, meinte Popov ironisch. Und das war das Ende der Diskussion. Popovs Worte hatten aber nicht nur Mischa Bobrovs Gefühle verletzt – er hatte nun auch die unangenehme Empfindung, zwischen ihm und seinem Sohn habe sich eine Kluft aufgetan. Nikolaj und sein Freund hatten etwas, das Mischa nicht verstand.
    In den kommenden Tagen nahm im Hause Bobrov alles seinen gewohnten Verlauf. Die beiden jungen Männer gingen täglich zur Arbeit mit den Dorfbewohnern und kamen müde zurück. Alle vermieden weitere Diskussionen. Mischa erkundigte sich gelegentlich, ob die Untersuchungen der beiden Fortschritte machten, und die Jungen bejahten.
    Nikolaj war von allem sehr angetan. Er genoß die körperliche Arbeit und die Gesellschaft der Bauern, die sich anscheinend an ihn gewöhnt hatten. Obwohl er viele von ihnen seit seiner Kindheit kannte, verstand er erst jetzt, wie sie wirklich lebten mit ihren Hungerlöhnen und dem Mangel an Grund und Boden. Er verstand, daß Boris die erdrückende Enge des Elternhauses nicht länger ertragen konnte, und sah, welch elende Aussichten Natalia in der Fabrik der Suvorins hatte. Es ist unsere Schuld, die des Adels, daß sie so leben müssen, dachte Nikolaj immer öfter. Wenn er sich im Dorf genau umsah, bemerkte er noch anderes. Aus Büchern hatte er von landwirtschaftlichen Methoden in anderen Ländern erfahren, und so sah er, daß die in Russka angewandten Praktiken mittelalterlich waren. Die Pflüge waren aus Holz, weil Metall zu teuer war. Die Äcker waren außerdem immer noch in Streifen angelegt, dazwischen gab es ungenutzte Bodenwellen. Da diese Flurstücke regelmäßig umverteilt wurden, hatte kein Bauer eine eigene Scholle, die er intensiver hätte bebauen können. »Unser größtes Problem ist allerdings«, vertraute Timofej ihm an, »daß die Ernte jedes Jahr geringer wird. Der Boden ist ausgelaugt.«
    Nikolaj befragte seinen Vater. Stimmte das, was Timofej sagte? Mischa zeigte sich erstaunlich gut informiert. »Wenn du das russische Dorf verstehen willst, mußt du wissen, daß viele Mißstände auf eigene Fehler zurückgehen. Die Ausbeutung des Bodens ist ein gutes Beispiel dafür. Unsere Bauern bauen nach der Dreifelderwirtschaft an: In dreijährigem Turnus wird einmal Sommergetreide angebaut, das nächste Jahr Wintergetreide, und im dritten Jahr liegt das Feld brach. Das rentiert sich einfach nicht. In anderen Ländern ist ein Turnus von vier, fünf oder sechs Jahren üblich, dazu Klee und Brachlandgras zur Anreicherung des Bodens. In ganz Rußland gibt es so etwas nicht. Doch wir hier in Russka haben ein zusätzliches Problem. Sawa Suvorin mit seiner Leinenfabrik.«
    »Wieso?«
    Mischa seufzte. »Weil der die Bauern dazu verführt, Flachs für die Leinengewinnung anzubauen. Es ist ein leicht absetzbares Anbauprodukt. Nun entzieht aber Flachs dem Boden mehr wertvolle Stoffe als sonst eine Anbaupflanze. So ist das in der ganzen Gegend. Außerdem bauen unsere Bauern zwar Brachlandgras zur Anreicherung des Bodens an, aber sie tun das auf einem separaten Feld, und nicht dort, wo der Fruchtwechsel stattfinden soll. Also ist die ganze Mühe umsonst. Außerdem pflügen sie immer neues Weideland um, um die geringeren Ernteerträge auszugleichen. Dadurch reduzieren sie den Viehbestand, den sie auf die Weide schicken könnten – dabei wäre Mist die einzige Möglichkeit – außer der Aussaat von Brachlandgras –, den ausgelaugten Boden wieder fruchtbar zu machen.«
    »Das ist ja ein Teufelskreis!« meinte Nikolaj. »Was kann man denn dagegen unternehmen?«
    »Nichts. Die Landgemeinden ändern ihre Gewohnheiten nicht.«
    »Und die zemstvo -Behörden?«
    »Ich fürchte, sie haben keinen Plan«, seufzte sein Vater. »Das ist alles zu schwierig.«
    Es gab jedoch auch freundliche Unterhaltungen. Oft saßen Nikolaj und Jevgenij mit der Familie Romanov in der isba, Jevgenij und Arina erzählten jene Volkssagen, die sie schon Nikolajs Vater als Kind erzählt hatten. Während Jevgenij sich meist schweigsam beiseite hielt – er wurde nicht warm mit der Familie –, hatte Nikolaj seinen Platz neben Arina.
    Einmal nach einem solchen vergnüglichen Beisammensein, als Jevgenij gegangen war, nahm Arina Nikolaj beiseite. Sie wirkte ungewöhnlich aufgeregt. »Nikolaj Michailovitsch, vergeben Sie

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