Russka
zu laufen; zweimal noch im selben Monat hatte er Popov zum Stelldichein erscheinen sehen. Es bestand kein Zweifel: Die Familie seiner zukünftigen Gattin und die Person seiner zukünftigen Schwiegermutter wurden von dem rothaarigen Sozialisten entehrt. Es war furchtbar.
Aber was sollte er machen? Vladimir war sein Freund. Wenn dieser große Mann hintergangen wurde, war es auf alle Fälle seine Pflicht, ihm ein Zeichen zu geben, überlegte Alexander. Es war auch nicht die Entehrung; man konnte nie wissen, welche Ungelegenheiten ein Mann wie Popov einer geachteten Familie verursachen konnte. Alexander wollte auch Nadeschda schützen.
Aber wie sollte er vorgehen? Es dem alten Mann direkt zu sagen war unangenehm. Wenn Frau Suvorin außerdem herausfand, was er getan hatte, würde er sich ihren immerwährenden Haß zuziehen – keine sehr verlockende Situation im Hinblick auf sein Ziel, künftig ihr Schwiegersohn zu sein.
Endlich fand er die Lösung: Er schickte Vladimir einen anonymen Brief, und zwar aus Zeitungsausschnitten zusammengesetzt und primitiv abgefaßt. Er war stolz auf diese Aktion. Dabei nannte er Popovs Namen nicht, sondern verwies nur auf »einen gewissen rothaarigen Revolutionär«. Danach spazierte er, sooft er konnte, spätabends an Suvorins Haus vorbei, und da er längere Zeit nichts von Popov zu sehen bekam, nahm er an, der Brief habe seine Wirkung getan. Doch einige Monate später sah er seinen Feind wieder dort herumlungern.
Alexander kam ziemlich oft in Suvorins Haus, und teils als Ausrede für die Besuche bei Vladimir, teils um etwas mit Nadeschda gemeinsam zu haben, entwickelte er während dieser Jahre ein fast professionelles Interesse an Malerei.
Sein Universitätsstudium belastete ihn nicht sonderlich. In seiner freien Zeit arbeitete er fleißig. Er studierte von Grund auf die Hauptströmungen der westlichen Malerei, ebenso beschäftigte er sich intensiv mit der alten Kunst der Ikonenmalerei. Wie es seine Art war, ging er dabei methodisch und ernsthaft vor. Mit der Zeit entwickelte er auch ein wirkliches Gefühl für die Thematik. Ehrgeizig wagte er sich in die zeitgenössische Malerei vor. Vladimirs Sohn, der mehr Zeit in Europa als in Rußland verbrachte, hatte kürzlich erstaunliche Werke von Chagall und Matisse geschickt, außerdem von einer seltsamen neuen Figur in der Szene, die anscheinend am Anfang einer neuen Ära der Malerei stand: Pablo Picasso. Alexander befaßte sich so gründlich mit jedem neuen Thema, als handle es sich dabei um die Lösung eines Rätsels, bis er an Kenntnissen allen anderen überlegen war. Alexander stellte fest, daß Nadeschda ihn aufgrund seines Wissens mit Respekt behandelte, was ihm höchst angenehm war. Sie ließ sogar mit Freuden den stolzen Dimitrij und Karpenko mit ihren Improvisationen am Klavier sitzen und begleitete ihn für ein paar ruhige Minuten durch die Galerien ihres Vaters, während er ihr von irgendeiner interessanten Entdeckung berichtete. »Du weißt eine Menge«, sagte sie dann und sah ihn mit ihren großen, ernsten Augen an.
Sie war jetzt in der Pubertät und bekam eine reizende Figur, wie er erfreut feststellte. Bald würde sie eine junge Frau sein. Alexander ging deshalb mit ihrer Beziehung sehr vorsichtig um, hielt eine freundliche Distanz ein, wartete, daß sie auf ihn zukäme. Im Augenblick gab es nur ein Problem, von dem Alexander hoffte, es werde sich in nicht allzu ferner Zeit von selbst lösen: Nadeschda war in Karpenko verliebt.
Für Dimitrij Suvorin war das Jahr 1913 nicht nur eine vielversprechende, sondern auch eine wildbewegte Zeit. Nie zuvor hatte die russische Kultur sich zu derart schwindelnden Höhen erhoben. Es war, als hätten sich alle außergewöhnlichen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts plötzlich zusammengetan und sich über die Welt ergossen.
Europa war der russischen Musik bereits verfallen, der Oper und dem herrlichen Baß des legendären Schaljapin. Nun hatte Diaghilevs »Ballet Russe« London, Paris und Monte Carlo im Sturm genommen. Zwei Jahre zuvor hatte der unvergleichliche Nijinski Strawinskys »Petruschka« getanzt; letztes Jahr das hinreißende, heidnisch-erotische Ballett »L'après-midi d'un faune«. Im Mai 1913 übernahm er in Paris die Choreographie jenes Ereignisses, das die Musikgeschichte verändern sollte: Strawinskys »Le sacre du printemps«. Vladimir Suvorin hatte das Glück, sich zu dieser Zeit gerade in Paris aufzuhalten. Er brachte Dimitrij eine Abschrift der Partitur mit,
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