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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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und der junge Mann vertiefte sich tagelang darin, fasziniert von der gigantischen, urwüchsigen Kraft, den nie zuvor gehörten Dissonanzen und den erregenden Rhythmen.
    »Rußland steht nicht länger hinter Europa zurück«, erklärte Karpenko bei dieser Gelegenheit. »Wir liegen jetzt vorn.« Nur wenige hätten leugnen wollen, daß Rußland in diesem erregenden künstlerischen Gärungsprozeß die führende Rolle spielte. Seit Rosas Tod hatten sie die Wohnung umgeräumt, und so hatten Peter, Dimitrij und Karpenko jeder sein eigenes Zimmer; dieses gemeinsame Junggesellenquartier sagte allen sehr zu. Durch Vladimirs Großzügigkeit hatte Karpenko genügend Geld, um sein Studium fortzusetzen und sich ein kleines Atelier nebenbei zu mieten.
    Die Avantgarde, die in Rußland erstaunlicherweise von Männern und Frauen angeführt wurde, schäumte über von Ideen, und Karpenko hielt Dimitrij und seinen Vater immer über die neuesten Wunder auf dem laufenden: Ein umstürzlerisches abstraktes Ölgemälde von Kandinsky; ein brillantes Bühnenbild von Benois oder Chagall. Und ständig ein neuer -ismus – im Jahre 1913 war vor allem die Rede vom Futurismus. Zweifellos eine bemerkenswerte Strömung. Unter der Führung brillanter junger Leute wie Malevitsch, Tatlin und Majakovskij verbanden die russischen Futuristen mit Vorliebe Malerei und Lyrik; sie veröffentlichten Bücher und Broschüren mit Illustrationen, deren kühne Wirkung nie wieder erreicht wurde. »Der Kubismus Picassos war eine Revolution«, erklärte Karpenko, »doch der Futurismus geht viel weiter.« In der Malerei übernahmen die Futuristen die gebrochenen geometrischen Formen des Kubismus und übersetzten sie in berstende Vorwärtsbewegung. In der Lyrik wurde die Sprache bis zum einfachen Klang hin zerlegt; durch Abweichungen von der Grammatik entstand etwas Neues, Verblüffendes.
    Mit seinen zwanzig Jahren hatte Karpenko sich zu einem auffallend gut aussehenden jungen Mann entwickelt. Er trug keinen Bart, und seine schmale, dunkle Gestalt war so auffallend, daß Dimitrij oft amüsiert feststellte, wie achtbare Damen auf der Straße sich vergaßen und hinter ihm herstarrten. Dimitrij sah ihn in Begleitung kunstbeflissener junger Damen, die offensichtlich sehr von ihm eingenommen waren. Karpenko zog es allerdings vor, Details über sein Liebesleben für sich zu behalten.
    Obwohl er so attraktiv war, war er nicht oberflächlich. Mitunter hatte er sich während der vergangenen Jahre kurzzeitig in nachdenkliches Schweigen gehüllt; das waren wohl, so dachte Dimitrij, Perioden schöpferischer Konzentration gewesen. Er hatte nur eines an seinem Freund zu bemängeln; manchmal fand er Karpenkos witzige Bemerkungen ein wenig roh.
    Wenn ihr Leben nun auch in verschiedenen Bahnen verlief, gingen die beiden jungen Männer doch häufig miteinander aus. Manchmal besuchten sie Vladimir Suvorin. Das Jugendstilhaus des Industriellen war inzwischen fertiggestellt und glich einem Kunstwerk. Vor allem die große Halle war atemberaubend mit dem Fußboden aus farbigem Marmor und Granit in Spiralmuster, mit fliederfarbenen Wänden, bunten Glasfenstern und einer Treppe aus cremefarbenem Marmor, das Geländer in großzügig schwingenden Formen geschnitzt. Vladimir hatte eine Bibliothek zeitgenössischer Literatur zusammengetragen, in der er viel freie Zeit verbrachte. Karpenko, der ihn beim Sammeln futuristischer Publikationen unterstützte, kam selten ohne ein neues Werk, das immer sehr willkommen war. Und natürlich kam er auch, um Nadeschda zu sehen. Es waren stets anregende Besuche. Manchmal brachten sie Freunde mit, und es ergaben sich häufig hitzige Diskussionen, an denen Nadeschda, obwohl sie erst fünfzehn Jahre alt war, aktiv teilnahm. Die Themen waren in jenen bewegten Tagen eher künstlerischer als politischer Natur. Meinungen prallten aufeinander; Nadeschda hörte zu und blickte mit leuchtenden Augen auf Karpenko. Manchmal tauchte auch Alexander Bobrov bei solchen Gelegenheiten auf, und dann fragte Karpenko, wenn die Gesellschaft gerade über den Dichter Ivanov hergefallen war, ganz beiläufig: »Was hältst du von Ivanov, Alexander Nikolajevitsch?« Und wenn Alexander dann, wie er es immer tat, eine unverbindliche Antwort gab, wie etwa: »Nicht schlecht«, sahen sich die übrigen Anwesenden vielsagend an oder brachen in Hohngelächter aus. »Armer Alexander Nikolajevetisch«, sagte Karpenko dann hinter seinem Rücken. »Er weiß alles und begreift nichts.« Und ins Gesicht

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