Saemtliche Dramen
ergeben. Sie kündet jedermann Trockenheit an, Hungersnot und Pest …
(Aber eine Gruppe Frauen übertönt ihn mit ihrem Geschwätz.)
– Am Hals hatte er ein riesiges Tier, das ihm gurgelnd das Blut aussaugte!
– Eine Spinne war das, eine dicke schwarze Spinne!
– Grün war sie, grün!
– Nein, es war eine Meerechse!
– Du hast doch gar nichts gesehen! Ein Polyp war das, so groß wie ein kleines Kind!
– Diego, wo ist Diego?
– Es wird so viele Tote geben, dass nicht mehr genug Lebende da sind, um sie zu bestatten!
– Wenn ich nur fortkönnte!
– Fort! Fort!
VICTORIA
Diego, wo ist Diego?
(Unterdessen sind am Himmel Zeichen aufgezogen, das sirenenhafte Brummen hat sich verstärkt und trägt zu dem um sich greifenden Entsetzen bei. Mit schwärmerischem Gesicht kommt ein Mann aus einem Haus und ruft: «In vierzig Tagen kommt das Ende der Welt!» Wieder wogt die Panik hin und her, die Leute wiederholen: «In vierzig Tagen kommt das Ende der Welt!» Wachleute verhaften den Verzückten, aber von der anderen Seite tritt eine HEXE auf und preist ihre Mittelchen an.)
DIE HEXE
Melisse, Minze, Salbei, Rosmarin, Thymian, Safran, Zitronenschale, Marzipan … Achtung, Achtung, diese Mittel sind unfehlbar!
(Aber eine Art kalter Wind kommt auf, während die Sonne untergeht und alle die Köpfe heben.)
DIE HEXE
Der Wind! Der Wind ist da! Die Plage flieht den Wind. Alles wird gut, ihr werdet sehen!
(Zugleich legt der Wind sich wieder, das Brummen wird schmerzhaft laut, die beiden dumpfen Schläge ertönen, ohrenbetäubend und näher als zuvor. Zwei Männer stürzen mitten in der Menge zu Boden. Alle entfernen sich mit gebeugten Knien rücklings von den Körpern. Nur die HEXE bleibt, zu ihren Füßen die beiden Männer mit Malen am Hals und in der Leistenbeuge. Die Kranken winden sich, rudern noch zwei, drei Mal mit den Armen und sterben dann, während sich langsam das Dunkel über die immer weiter zurückweichende Menge senkt, sodass die Leichen allein in der Mitte bleiben. Dunkelheit.)
(Licht in der Kirche. Scheinwerfer auf dem Königspalast. Licht im Haus des Richters. Die Schauplätze wechseln hin und her.)
(Im Palast.)
DER ERSTE BÜRGERMEISTER
Euer Ehren, die Epidemie greift rasch um sich, keine Hilfsmaßnahme verfängt. Viel mehr Menschen sind angesteckt, als man dachte. Meiner Ansicht nach darf man der Bevölkerung also auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Außerdem befällt die Krankheit bislang vor allem die armen, übervölkerten Viertel am Stadtrand, das ist noch Glück im Unglück.
(Beifälliges Gemurmel.)
(In der Kirche.)
DER PFARRER
Kommt her, jeder soll seine schlimmsten Taten öffentlich beichten. Öffnet eure Herzen, Verdammte! Gesteht einander, was ihr getan und geplant habt, oder das Gift der Sünde wird euch würgen und euch genauso sicher in die Hölle bringen wie der Krake der Pest … Ich selbst will bekennen, dass ich es oft an Nächstenliebe habe fehlen lassen.
(Drei pantomimische Beichten während des folgenden Dialogs.)
(Im Palast.)
DER GOUVERNEUR
Es wird schon alles wieder gut. Wie lästig, ich wollte eigentlich zum Jagen. Warum passiert so etwas immer, wenn man etwas Wichtiges vorhat? Was tun?
DER ERSTE BÜRGERMEISTER
Verpassen Sie bloß nicht die Jagd, schon um des Vorbilds willen. Die Stadt muss sehen, wie Sie dem Übel heiter die Stirn bieten.
(In der Kirche.)
ALLE
Vergib uns, Gott, was wir getan oder auch nicht getan haben!
(Im Haus des Richters.)
DER RICHTER (liest Psalmen, umgeben von seiner Familie)
«Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet mich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz!»
DIE FRAU
Casado, können wir nicht aus dem Haus gehen?
DER RICHTER
Du bist zu oft hinausgegangen in deinem Leben, Frau. Das hat uns kein Glück gebracht.
DIE FRAU
Victoria ist nicht nach Hause gekommen, ich sorge mich um sie.
DER RICHTER
Um dich selbst hast du dich nicht immer gesorgt. Und hast dabei die Ehre verloren. Bleib, hier ist die Zuflucht vor der Plage. Ich habe an alles gedacht, wir verbarrikadieren uns und warten ab, bis es vorbei ist. Mit Gottes Hilfe wird uns nichts geschehen.
DIE FRAU
Du hast recht, Casado. Aber wir sind nicht allein. Andere leiden. Victoria ist vielleicht in Gefahr.
DER RICHTER
Vergiss die anderen und denk an uns. An deinen Sohn zum Beispiel. Lass so viel Vorräte kommen, wie du kannst. Zahle, was verlangt wird. Aber hamstere, Frau, hamstere!
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