Saemtliche Dramen
(Liest) «Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott …»
(In der Kirche.)
DER CHOR (spricht den Psalm weiter)
«Dass du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt.»
EINE STIMME
Oh!, der große, schreckliche Gott!
(Licht auf dem Platz. Das Volk bewegt sich im Rhythmus einer Copla.)
DER CHOR
Du hast in den Sand gezeichnet
Auf das Meer hast du geschrieben
Uns bleibt nur der Schmerz.
( VICTORIA kommt. Scheinwerfer auf dem Platz.)
VICTORIA
Diego, wo ist Diego?
EINE FRAU
Er ist bei den Kranken. Er pflegt alle, die nach ihm rufen.
( VICTORIA läuft zum Bühnenrand und rempelt DIEGO an, der die Maske der Pestärzte trägt. Sie weicht mit einem Ausruf zurück.)
DIEGO (sanft)
Mache ich dir solche Angst, Victoria?
VICTORIA (mit einem Schrei)
Diego, endlich! Tu die Maske weg und nimm mich in den Arm. In deinen Armen kann mir die Krankheit nichts anhaben!
(Er rührt sich nicht.)
Was ist anders zwischen uns, Diego? Ich suche dich seit Stunden überall, voller Angst, du könntest ebenfalls krank werden, und jetzt kommst du mit dieser Maske, die Qual und Krankheit bedeutet. Bitte tu sie weg, tu sie weg und nimm mich fest in den Arm! (Er nimmt die Maske ab.) Wenn ich deine Hände sehe, bekomme ich einen trockenen Mund. Küss mich!
(Er rührt sich nicht.)
Küss mich, ich habe solchen Durst. Wir haben uns gestern verlobt, hast du das vergessen? Die ganze Nacht habe ich auf heute gewartet, darauf, dass du mich mit aller Kraft küsst. Schnell, schnell! …
DIEGO
Ich habe Mitleid, Victoria.
VICTORIA
Ich auch, aber mit uns. Darum habe ich dich gesucht, habe auf den Straßen nach dir gerufen, bin dir entgegengelaufen, mit ausgestreckten Armen, um dich zu umarmen!
(Sie tritt auf ihn zu.)
DIEGO
Fass mich nicht an, bleib weg!
VICTORIA
Warum?
DIEGO
Ich erkenne mich nicht wieder. Menschen haben mir nie Angst gemacht, aber das hier übersteigt mich, die Ehre hilft mir nicht, und ich spüre, dass ich mir verlorengehe. (Sie kommt näher.) Fass mich nicht an. Vielleicht ist die Krankheit schon in mir, und ich gebe sie dir weiter. Warte ein wenig. Lass mich erst zu mir kommen, das Grauen nimmt mir den Atem. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich diese Menschen anfassen und in ihrem Bett umdrehen soll. Meine Hände zittern vor Entsetzen, und ich bin blind vor Mitleid. (Schreie, Stöhnen.) Sie rufen mich, du hörst es. Ich muss gehen. Gib acht auf dich, gib acht auf uns. Es geht vorüber, ganz sicher!
VICTORIA
Geh nicht weg.
DIEGO
Es geht vorüber. Ich bin zu jung, und ich liebe dich zu sehr. Der Tod ist mir verhasst.
VICTORIA (wirft sich ihm entgegen)
Ich lebe!
DIEGO (weicht zurück)
Ich schäme mich so, Victoria, ich schäme mich!
VICTORIA
Warum denn?
DIEGO
Ich glaube, ich habe Angst.
(Man hört Stöhnen. Er läuft in dessen Richtung weg.
Das Volk bewegt sich im Rhythmus einer Copla.)
DER CHOR
Wer hat recht und wer doch nicht?
Klug ist ja, wer nicht vergisst
Dass alles auf Erden Lüge ist
Und nur der Tod die Wahrheit spricht.
(Scheinwerfer auf der Kirche und dem Palast des GOUVERNEUR s. Psalmen und Gebete in der Kirche. Vom Palast aus spricht der BÜRGERMEISTER zum Volk.)
DER BÜRGERMEISTER
Befehl des Gouverneurs. Ab sofort ist zum Zeichen der Buße und um die Ansteckungsgefahr zu mindern, jedwede öffentliche Versammlung untersagt, desgleichen alle Vergnügungen. Darüber hinaus …
EINE FRAU (schreit mitten in der Menge los)
Da! Da wird ein Toter versteckt. Das darf nicht sein. Er steckt alle an! So eine Schande! Er muss unter die Erde!
(Durcheinander. Zwei Männer zerren sie weg.)
DER BÜRGERMEISTER
Darüber hinaus kann der Gouverneur die Bürger bezüglich der unerwarteten Krankheit beruhigen, die über die Stadt gekommen ist. Nach übereinstimmender Meinung der Ärzte wird es genügen, dass vom Meer her Wind aufkommt und die Pest vertreibt. Mit Gottes Hilfe …
(Doch die beiden dumpfen Schläge unterbrechen ihn, danach abermals zwei Schläge, dann läutet die Totenglocke hastig los, und in der Kirche überstürzen sich die Gebete. Dann herrscht nur noch entsetztes Schweigen, in dem zwei fremdartige Gestalten auftreten, ein Mann und eine Frau, denen alle mit den Blicken folgen. Der Mann ist dick. Barhäuptig. Er trägt eine Art Uniform mit einem Orden. Die Frau trägt ebenfalls eine Uniform, aber mit weißem Kragen und weißen Manschetten. In der
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